Studium in der Schweiz:Neue Mobbingfälle setzen ETH Zürich unter Druck

Universität Yale, Princeton, ETH Zürich, Columbia

An der ETH Zürich gibt es Probleme bei der Betreuung von Doktoranden.

(Foto: iStock)

An der ETH sollen mehr Professoren ihre Macht gegenüber Doktoranden missbraucht haben, als bisher bekannt war. Die Hochschule reagiert mit einer Reihe von Gegenmaßnahmen.

Von Martin Sturzenegger, Zürich

21 Nobelpreisträger, 355 Start-up-Firmen und 200 Erfindungsmeldungen pro Jahr: Die ETH Zürich bringt Großes hervor. Von ihrem Glanz profitiert nicht nur Zürich, sondern die ganze Schweiz. Ein Vorfall jedoch, der im vergangenen Herbst publik wurde, brachte der Hochschule einen unerwarteten Imageschaden. Eine Professorin des ehemaligen Instituts für Astronomie soll jahrelang Doktoranden schikaniert haben. Die Mobbingaffäre hatte schwerwiegende Folgen für den internen Betrieb der Hochschule: Die Schulleitung schickte die italienische Professorin in ein Sabbatical, von dem sie sich bis heute nicht zurückgemeldet hat. Zwei Untersuchungsverfahren wurden eingeleitet, und das Institut für Astronomie wurde gleich ganz aufgelöst.

Dies wurde stets als Einzelfall wahrgenommen. Recherchen des Schweizer Tages-Anzeigers zeigen nun, dass gegenwärtig noch weitere Untersuchungsverfahren gegen Professoren laufen. Eines betrifft das Maschinenbau-Departement. "Wir hatten in den letzten Monaten teilweise unhaltbare Zustände", sagt ein Doktorand, der anonym bleiben will. Er und 13 seiner Kollegen mussten sich in diesem Jahr eine neue Betreuungsperson suchen. Die Schulleitung hatte dem Professor die Betreuungskompetenz entzogen. Gemäß dem Doktoranden wegen "gravierender Mängel in Führungskompetenz". "Er hatte ein großes Fachwissen, seine Betreuung war jedoch unterirdisch." Beleidigungen, übermäßige Arbeitsbelastung und Kommunikationsprobleme - die Situation für die Doktoranden sei schon seit längerem untragbar gewesen.

Prorektor Antonio Togni bestätigt, dass zurzeit Untersuchungen im Umfeld von drei Professorinnen und Professoren laufen - eine davon im Departement Maschinenbau und Verfahrenstechnik. Vorwürfe von "grobem Fehlverhalten" stehen im Raum. Seit zwei Jahren ist Togni Prorektor für das Doktorat an der ETH. In dieser Zeit war er mit über 40 Doktorierenden aus elf verschiedenen Departementen in Kontakt, die Probleme mit ihren Vorgesetzten hatten. "Mit einigen Professoren fanden darauf Unterredungen statt", sagt er. In drei Fällen, wie bei jenem im Maschinenbaudepartement, kam es zu Administrativuntersuchungen. Die ETH beschäftige über 500 Professorinnen und Professoren. Dass die Betreuung nicht bei jedem der über 4000 Doktorierenden optimal funktioniere, sei leider eine Tatsache. Seit Anfang 2017 befasse sich die ETH intensiv damit, wie die Betreuungssituation verbessert werden kann.

Togni hat soeben eine erste, von der Schulleitung angeregte Analyse vorgelegt, die sich intensiver mit dem Istzustand des ETH-Doktorats auseinandersetzt. Ein Kapitel gilt dem "Fehlverhalten in der Betreuung" und beinhaltet Verbesserungsvorschläge. Im Bericht, der dem TA vorliegt, umschreibt der Prorektor die zuweilen auftretende Problematik zwischen Professoren und Doktorierenden: "Das inhärente Abhängigkeitsverhältnis und Machtgefälle zwischen den involvierten Parteien kann zu unerwünschten und potenziell Gefahren bergenden Auswüchsen führen."

Aus dem Papier geht zudem hervor, dass die Doktoratsausbildung an der ETH möglicherweise vor einem größeren Umbruch steht. Während in mehreren Ländern, zum Teil aber auch in der Schweiz, "Doctoral Schools" eingeführt würden, bleibe die ETH "eine Hochburg der individuellen Doktoratsausbildung", schreibt Togni. "Es stellt sich daher die Frage, ob diese klassische Form des Doktorats die richtigen Antworten für die künftigen Herausforderungen liefern kann." Auch die ETH hat bereits erste Doctoral Schools eingeführt und folgt damit einem Trend. Merkmale der Organisationsform: eine verstärkte Institutionalisierung der Forschungsgemeinschaft, eine individuellere Betreuung der Doktorierenden und verstärkter Austausch zwischen den einzelnen Mitgliedern. Das traditionelle ETH-Doktorat hingegen ist geprägt von einer engen Eins-zu-eins-Beziehung zwischen Doktorand und Betreuungsperson. Das kann Vorteile haben - aber nicht, wenn ein Professor seine Macht gegenüber den von ihm abhängigen Doktoranden missbraucht.

Probleme: lange Arbeitszeiten und Wochenendarbeit

Letzteres kommt auch in der ETH vor. In einer Umfrage, welche die Mittelbauvereinigung AVETH durchführte und deren Resultate Anfang Mai publik wurden, geben 24 Prozent der Doktorierenden an, dass sie das Gefühl haben, ihr Professor habe bereits einmal seine Machtposition missbraucht. Am häufigsten wurden lange Arbeitszeiten und Wochenendarbeit kritisiert. Lohn als Druckmittel, fehlende Möglichkeit einer Ferienplanung oder respektloser Umgang sind häufig genannte Missstände. 1594 der knapp 4350 ETH-Doktorierenden nahmen an der Umfrage teil.

"Das Machtgefälle zwischen Professorenschaft und Doktoranden ist strukturell bedingt", sagt Togni. Dies sei ein weltweites Problem, das nicht nur die ETH betreffe. Tognis Aussage wird durch eine Umfrage gestützt, die das Wissenschaftsmagazin Nature kürzlich publizierte. Von 5000 befragten Doktorierenden der größten Universitäten der Welt leiden 1574 unter psychischem Druck: Angstzustände und Depressionen, oftmals ausgelöst durch eine mangelnde oder missbräuchliche Betreuung.

Professoren sollen in die Pflicht genommen werden

"Doktorierende an renommierten Hochschulen wie der ETH befinden sich in einem hochkompetitiven Umfeld", sagt Togni. Wer erfolgreich sein wolle, müsse viel leisten und mit einem gewissen Druck umgehen können. "Ein konstruktiver und respektvoller Umgang miteinander ist aber ebenfalls zentral. Eine solche Kultur wollen wir weiter fördern." In seiner Analyse nennt Togni mehrere Maßnahmen, wie die Doktorandenbetreuung verbessert werden kann. So ist eine Mehrfachbetreuung angedacht, um das Abhängigkeitsverhältnis zu den Professoren zu verringern. Die zusätzlichen Mentoren könnten den Doktorierenden während der Ausbildung beratend zur Seite stehen - Post-Doktorierende oder Senior Scientists, die nicht unbedingt der gleichen Forschungsgruppe angehören müssten. Weitere mögliche Maßnahmen: Durchsetzung eines minimalen Standardlohns für alle Doktorierenden, die Schaffung eines Fonds, der Doktorierende in Konfliktsituationen unterstützen soll, sowie die Etablierung einer Lehrveranstaltung Ethik.

Professoren sollen in die Pflicht genommen werden. Neu berufene Professoren müssten künftig ein mindestens zweitägiges Pflichtseminar zur "Einführung in die ETH-Kultur" besuchen. Wichtiger Programmpunkt: die Betreuung von Doktorierenden. Der Fall am Astronomie-Institut habe an der ETH "eine Art positiven #MeToo-Effekt erzeugt", sagt Togni. Unzufriedene Doktorierende hätten sich plötzlich zu Wort gemeldet. "Wenn es uns gelingt, die Maßnahmen umzusetzen, könnten wir künftig eine Vorreiterrolle in der Betreuung von Doktoranden einnehmen."

Geht es nach Wilfred van Gunsteren, hätten die Missstände in der Betreuung viel früher angegangen werden müssen. Der 70-jährige emeritierte Professor war bis Ende März Ombudsmann an der ETH. Dann wurde sein Mandat nicht mehr verlängert. Die ETH begründet das Ende der Zusammenarbeit mit Altersgründen. Van Gunsteren, der gerne noch eine Amtsperiode angefügt hätte, spricht von einer Retourkutsche: "Wir waren dem Präsidenten zu unbequem, weil wir auf die ethischen Missstände innerhalb der Schule hingewiesen hatten." In den vier Jahren, die er als Ombudsmann tätig war, seien ständig einige Professoren unter Beobachtung gestanden. "Das Problem ist dem Präsidenten schon seit 2015 bekannt." Die Medienstelle der ETH hält fest, dass Konflikte von jeher im direkten Gespräch gelöst worden seien. "Das wird an der ETH nicht erst seit 2015 praktiziert."

Der Fall im Maschinenbaudepartement hat derweil eine Wendung genommen. Wie die ETH-Medienstelle erklärt, habe der betroffene Professor selber gekündigt. "Es ist ihm wohl keine andere Wahl geblieben", sagt sein ehemaliger Doktorand. "Wem die Doktoranden entzogen werden, dem fehlen die wichtigsten Arbeitskräfte."

Wie der Fall ins Rollen kam

Die Ombudsstelle der ETH spielte eine entscheidende Rolle, damit sich die Hochschule intensiver mit der Mobbingproblematik befasst. Gemäß Wilfred van Gunsteren, der die Ombudsstelle bis Ende März leitete, hatte die fehlbare Astronomie-Professorin von der Schulleitung die Erlaubnis erhalten, im Frühling ihre Lehrtätigkeit wieder aufzunehmen. Die ETH-Medienstelle widerspricht: Die Professorin sei nach Einleitung der Untersuchungen zu allfälligem Fehlverhalten freigestellt worden. Die Frage einer baldigen Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit habe sich also nicht gestellt. Van Gunsteren behauptet, ETH-Präsident Lino Guzzella habe die Angelegenheit zuerst im Stillen regeln wollen, echte Transparenz habe nicht geherrscht. Von der Schulleitung sei ihm die Einsicht in Akten verwehrt geblieben. Guzzella will sich kein Fehlverhalten vorwerfen lassen: Die Schulleitung habe im Rahmen der rechtlichen Vorgaben gehandelt, heißt es bei der ETH-Medienstelle. "Es galt, die Persönlichkeitsrechte aller Involvierten zu schützen."

Laut Van Gunsteren gab es zahlreiche Beschwerden wegen der Astronomie-Professorin. Die Ombudsstelle meldete ihre Bedenken dem ETH-Rat, wie aus einem internen Briefwechsel hervorgeht. Das Führungsorgan erkannte die Problematik: "Der ETH-Rat stellt fest, dass die im Raum stehenden Vorwürfe gegen X schwer wiegen", steht im Schreiben. Mittels einer Verfügung verlangte der ETH-Rat, dass der Sachverhalt einer "näheren Abklärung bedarf". Danach reagierte die Schulleitung mit einer ausgeweiteten Untersuchung gegen die Professorin. Die Resultate werden bis spätestens Juni erwartet.

Nach Van Gunsteren wurde mit Hugo Bretscher ein neuer Ombudsmann gefunden. Kurz nach Amtsantritt hat der jedoch bereits wieder gekündigt. Die ETH begründet den Rücktritt mit persönlichen Gründen.

Dieser Artikel erschien zuerst im Tages-Anzeiger vom 11.05.2018.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: