Studieren mit Behinderung:Bei Handicaps müssen Studenten und Unis zusammenarbeiten

Hochschulen und Fortbildungsinstitute richten sich zunehmend auf Studenten mit Behinderung ein. Diese müssen aber gründlich prüfen, welche Hochschule zu ihnen passt.

Von Christine Demmer

Lernen Beilage SZ 16.3.2017

Ich bin blind. Aber nicht blöd." Mit diesen Worten hatte die mit 18 Jahren erblindete Nadine Wettstein aus Halle an der Saale einem Professor den Wind aus den Segeln genommen, als der sie sinngemäß fragte, was um Himmels willen die junge Frau in seinen Hörsaal verschlagen habe. Ihre Antwort war schlagfertig, höflich war sie nicht. Wettstein hätte auch antworten können: "Wissensdurst, Selbstbewusstsein und Organisationstalent."

Dank moderner Technik können heute auch sehbehinderte Studierende in den Vorlesungen mitschreiben - mit einem Spezial-Laptop - und die Aufzeichnungen zu Hause nacharbeiten - mithilfe der Sprachausgabe von Texten. Wer schlecht hört, erhält die Vorträge in Schriftform, wer nicht laufen kann, einen rollstuhlgerechten Platz im Hörsaal. Wenn der Kopf und die Hochschule mitmachen, sind körperliche Einschränkungen kein Grund mehr, den Traum vom Studium zu begraben.

Allerdings beschränken sich viele Fortbildungsinstitute und Hochschulen noch immer auf den behindertengerechten Um- und Ausbau von Gebäuden. Barrierefreie Seminarräume und Behindertenparkplätze sind bei Neubauten zwar Standard, doch nach ausgebildeten Betreuern, nach Fahrdiensten und nach Preisnachlässen muss man länger suchen. Hilfe leistet dabei die Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung (IBS) beim Deutschen Studentenwerk.

Rampen allein schaffen keine Barrierefreiheit

Dort weiß man auch, dass unter dem Stichwort "Digitale Inklusion" landauf, landab die Einführung neuer Lernformate und -technologien diskutiert wird. Dem Fernstudium kommt dabei besondere Bedeutung zu, denn das Lernen aus schriftlichen Unterlagen ohne beschwerliche Anfahrtswege und mit freier Zeiteinteilung fällt Menschen mit körperlichen Einschränkungen erheblich leichter.

Blended Learning, also ein Fernstudium mit Präsenzphasen, ist ideal für alle, die beim Lernen ohne einen ihrer Sinne auskommen müssen. Dann trifft man sich eben statt im Hörsaal auf dem Online-Campus. Die Wilhelm-Büchner-Hochschule, Marktführer in Sachen privates Fernstudium, stellt die Studienhefte ohne Mehrkosten im PDF-Format zur Verfügung. Da Prüfungen für Studierende mit Handicap eine besondere Herausforderung darstellen, prüft sie zudem im Einzelfall, wie ein Nachteilsausgleich gewährt werden kann. Professor Jürgen Deicke, Präsident der Wilhelm-Büchner-Hochschule, versichert: "Ob Bachelor- oder Masterstudium: Wenn Menschen mit körperlichen Behinderungen bei uns studieren möchten, finden wir im direkten Gespräch persönliche und individuelle Lösungen, die die Bedürfnisse unserer Studierenden berücksichtigen."

Studenten mit Handicap steht ein Assistent zu

Für die heute 38-jährige Diplom-Ökotrophologin Nadine Wettstein kam ein Fernstudium allerdings nicht in Frage: Es wurde in ihrer Disziplin schlicht nicht angeboten. Darum klopfte sie alle Hochschulen mit fachlich benachbarten Fächern auf deren Bereitschaft ab, Studenten mit Handicap zu unterrichten. "Ich habe mit den Studienberatern gesprochen und mich später bei jedem Professor persönlich vorgestellt und gefragt, ob ich seine Vorlesungen auf einer Mini-Disc aufzeichnen darf", sagt Wettstein. "So konnte ich mich im Hörsaal auf den Vortrag konzentrieren." Alle Professoren hätten eingewilligt.

Schwierig werde es, wenn Dozenten vergäßen, dass unter den Zuhörern ein Blinder sitzt. "Wir selbst bekommen ja nicht mit, was mit dem Projektor oder Beamer an die Wand geworfen wird", sagt Wettstein. "Dann muss man sich darauf verlassen, dass die Sitznachbarn einen Hinweis geben."

Auslandsstudium

Auch Menschen mit Handicap können sich im Ausland fortbilden. Für alle Programme des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) kann man sich um eine Förderung bewerben, wobei die überzeugende akademische Qualifikation den Ausschlag gibt. Körperlich eingeschränkte oder chronisch kranke Studierende und Wissenschaftler mit dem Status von DAAD-Stipendiaten, die einen Auslandsaufenthalt während ihres Studiums oder zu Forschungszwecken planen, können einen Antrag auf Ersatz der Mehrkosten stellen, falls diese von keinem anderen Kostenträger gedeckt werden. Die Obergrenze der Förderung beträgt 10 000 Euro. Christine Demmer

Da Studierende mit Handicap mehr organisieren müssen als ihre gesunden Kommilitonen, haben sie ein gesetzliches Anrecht auf eine unentgeltliche Assistenzkraft. Peter Schäfer, Behindertenbeauftragter und Professor an der Hochschule Hof, findet das fair: "Viele Menschen mit körperlichen Einschränkungen wollen nicht bemitleidet werden. Sie fordern aber einen Ausgleich für ihren Nachteil gegenüber Gesunden." An seiner Hochschule studiert eine Rollstuhlfahrerin, der eine Kommilitonin assistiert. "Dadurch, dass die eine das Gleiche studiert wie die andere, kann sie noch besser helfen", sagt Schäfer.

Auch der seit Geburt fast blinde Claas Oehlmann aus Berlin wird bei den Lehrveranstaltungen an der Leuphana-Universität von einer Studienkollegin begleitet, die ihn bei der An- und Abreise nach Lüneburg unterstützt. Sie studiert wie er im berufsbegleitenden MBA-Studiengang Sustainability Management. Zuvor hatte Oehlmann zwei Masterabschlüsse in Bremen und Fulda erworben. Parallel zu seinem dritten Studium forscht der 32-Jährige für seine Doktorarbeit über das Gestalten einer europäischen Kreislaufwirtschaft und arbeitet in Berlin als Referent beim Bundesverband der Deutschen Industrie.

Scannen und konvertieren - in Brailleschrift

Olaf Ledderboge vom Centre for Sustainability Management in Lüneburg ist begeistert, dass Oehlmann trotz seines Handicaps Studium, Dissertation und Berufstätigkeit miteinander verbinden kann. Er lobt das Durchhaltevermögen des Studenten ebenso wie den technischen Fortschritt. "Der Lernprozess und alle wesentlichen Materialien und Durchführungsformen wie Studienbriefe, Fachliteratur und Gruppenarbeiten werden bei uns mittels einer Online-Lernplattform organisiert", erklärt Ledderboge.

Die verwendeten Technologien basierten auf moderner Browser- und Netzwerktechnik, wobei zwei Systeme miteinander verbunden sind. "Wir nutzen ein hausintern weiterentwickeltes Moodle-Lernsystem", führt der Dozent aus. "Mit genau dieser Technologie kann die Lese- und Bediensoftware, welche Blinde und Sehbehinderte nutzen, mittlerweile sehr gut arbeiten." In der Bibliothek der Lüneburger Uni gibt es einen mit spezieller Hard- und Software ausgestatteten Arbeitsplatz, an dem sich eingescannte Texte in Brailleschrift umwandeln oder vorlesen lassen. Ein Betreuungsteam unterstützt die Teilnehmer im Lernprozess.

Auch die Prüfungsformate sind an die Fernlehr-Situation angepasst: Die Studierenden schreiben keine Klausuren, sondern erbringen ihre Leistungsnachweise in Form von Hausarbeiten. Und wenn man nun feststellt, dass es einem doch zu viel wird? "Zu Beginn schlossen wir die Vereinbarung", sagt Ledderboge, "dass Oehlmann das Studium ohne Kosten im ersten Semester wieder abbrechen könne, falls er mit dem Modell doch nicht zurechtkommen sollte." Wie es aussieht, wird es der Student aber ebenso schaffen, wie Nadine Wettstein aus Halle es geschafft hat. Inzwischen arbeitet sie als Inklusionsberaterin und schreibt an ihrer Doktorarbeit.

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