Studium:Der Trend geht zur Eingangsprüfung

Wer darf studieren?

Wer in einem der Hörsäle der TU München sitzt, hat es geschafft - und das Auswahlverfahren erfolgreich durchlaufen.

(Foto: Peter Kneffel/dpa)

Immer mehr Unis schauen bei der Auswahl der Studierenden nicht nur auf die Abinote, darunter die TU München. Das bringt viel Aufwand mit sich - und stößt auch auf Kritik.

Von Paul Munzinger und Jasmin Siebert

Mit acht Jahren hat Maximilian Zimmer seine erste Website programmiert. Er hat sich selbst Programmiersprachen beigebracht, HTML, CMS und andere. Vor zwei Jahren dann machte er ein Praktikum in einem Softwareunternehmen. Danach stand für ihn fest, dass er Informatik studieren möchte. Doch sein Abitur war eher mittelmäßig. Deswegen saß der 19-Jährige aus Rottal-Inn Anfang August im Büro von Joachim Bungartz zum Bewerbungsgespräch.

Bungartz ist seit 2004 Informatikprofessor an der TU München, seit 2013 ist er auch Dekan der Fakultät. Jeden Sommer führt er mindestens zwei Dutzend Auswahlgespräche. Es gehe ihm nicht darum, jemanden abzuschrecken oder unter Druck zu setzen. Er wolle Bewerbern eine Chance geben, die sie bei einem rein auf Noten basierten Zulassungsverfahren nicht hätten. Bewerbern, die ihm zeigen, dass sie logisch denken können und sich ernsthaft mit den Inhalten des Studiums auseinandergesetzt haben. Bewerbern, die ihm plausibel machen, dass es nichts heißen muss, dass ihr Abitur nicht so gut war.

Die TU München ist stolz auf ihr Auswahlverfahren, in das sie viel Zeit und Mühe investiert. Statt wie beim Numerus clausus einfach irgendwann die Tür zuzumachen, hat sie in diesem Sommer 750 Bewerber allein für die drei Informatikstudiengänge zum Gespräch geladen; insgesamt waren es Tausende.

Für die Dozenten bedeuten die 20-minütigen Gespräche zusätzliche Arbeit in den Semesterferien, die nicht vergütet wird. "Wir halten das Verfahren für so nützlich, dass wir diesen großen Aufwand betreiben", sagt TU-Sprecher Klaus Becker. Die Gespräche stärkten Motivation und Identifikation der Studierenden mit ihrem Fach. Das Ergebnis: An der TU beendeten deutlich weniger junge Menschen ihr Studium vorzeitig als an anderen Universitäten.

Eingangsprüfung statt Abschlussprüfung

Die TU ist mit ihrem System zugleich Vorreiterin einer Entwicklung, die sich in Deutschland zunehmend bemerkbar macht: einer Neuordnung des Übergangs von der Schule ins Studium. Standen die Schleusenwärter früher am Ende der Schulzeit, verschieben sie sich an den Anfang des Studiums. "Das System der Abschlussprüfungen wird derzeit von einem System der Eingangsprüfungen abgelöst", sagt der Bonner Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin. Den Hochschulen, glaubt er, "bleibt nichts anderes übrig".

In der Zeitschrift Forschung und Lehre hat Ladenthin kürzlich bittere Bilanz gezogen. Das Gymnasium, schrieb er, erfülle seine wichtigste Aufgabe nicht mehr: Schüler studierfähig zu machen. Die Erstsemester stellten heute keine Fragen mehr und äußerten kaum Kritik, es fehle ihnen an Urteilskraft, Abstraktionsfähigkeit, Lebenserfahrung. In Brückenkursen müssten die Universitäten nachholen, was die Schule versäumt habe; in Eingangsprüfungen zeige sich, dass sie der Aussagekraft der Abiturnote nicht mehr vertrauten. Der Übergang von der Schule auf die Universität, so Ladenthins Fazit, "ist hochgradig gestört".

Für die Gymnasien geht es hier um viel, das zeigte jüngst die Debatte, wie der Zugang zum Medizinstudium künftig ablaufen soll. Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Dezember 2017 hatte eine Neuordnung erzwungen. Die medizinischen Fakultäten und Medizinstudenten schlugen vor, niemanden mehr allein aufgrund der Abiturnote zuzulassen, und sei sie noch so gut. Stattdessen sollte der Note der sogenannte Medizinertest gleichwertig zur Seite gestellt werden. Die Gymnasiallehrer protestierten: Das Abitur sei ungleich aussagekräftiger als ein einmaliger Test, der nicht zuletzt von der Tagesform des Prüflings abhänge.

Am Ende traf man sich in der Mitte. Die Abiturbestenquote bleibt erhalten, dafür lassen die Hochschulen in ihre Auswahlverfahren künftig zwei Kriterien neben der Note einfließen - einen Test etwa oder berufliche Vorerfahrungen - und nicht nur eines, wie vom Bundesverfassungsgericht gefordert.

Zum Bewerbungsgespräch "wie Graf Koks"

Dass sie mit ihrem Auswahlverfahren das Abitur entwerte, weist die TU München zurück - auch ihr System belohne Bewerber mit gutem Abschluss sofort mit einem Studienplatz. Allerdings zählt nicht die reine Abiturnote - sie wird etwa mit der Physiknote verrechnet, wenn jemand Physik studieren will. Alle anderen werden zum Gespräch eingeladen, selbst mit einem Abischnitt von 3,5. Wer besteht, erhält einen Platz, die Anzahl ist unbegrenzt.

Klar ist aber: Die TU will sich weiter von der Note emanzipieren. Ihr Präsident Wolfgang Herrmann forderte vergangenes Jahr, den Unis "erweiterte Gestaltungsräume bei den Zulassungsverfahren" einzuräumen. Die Allgemeinheit, so Herrmann, könne es sich nicht leisten, durch "undifferenzierte Verfahren" wie den NC Ressourcen zu vergeuden. Bewerber nur aufgrund des Abiturs zuzulassen und sie nach einem Jahr "hinauszuprüfen", sei bequem, aber ungerecht und verschwenderisch.

Im Jahr 2000 führte die TU für einige Studiengänge erstmals ein Eignungsfeststellungsverfahren ein, mit der Zeit kamen immer mehr Fächer dazu. Inzwischen musste die Hochschule jedoch zurückrudern. Seit diesem Wintersemester ist das Eignungsfeststellungsverfahren für die Bachelorfächer Informatik, Chemie, Biologie und Mathe nicht mehr erlaubt. Stattdessen gibt es dort nun ein Studienorientierungsverfahren. Der Unterschied: Das Gespräch ist verpflichtend, das Ergebnis aber nicht mehr bindend.

Bewerber müssen Denksportaufgabe lösen

Juristisch ist die Sache kompliziert, das Grundgesetz garantiert freie Berufswahl. Am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) ist man mit Eignungstests daher vorsichtig. Nur im Bachelor Chemie gibt es einen. Dort sei Wissen nötig, das man in der Schule nicht lerne, sagt Alexander Wanner, Vizepräsident für Lehre und akademische Angelegenheiten. Über Orientierungsverfahren denke man aber "verstärkt" nach: "Bei Abbrecherquoten von über 20 Prozent sehen wir uns in der Pflicht, etwas zu tun." Wanner prophezeit, dass Auswahlgespräche bundesweit zunehmen werden.

Informatikprofessor Bungartz räumt ein, dass das Auswahlgespräch nicht perfekt sei. Entscheidungen, die von Menschen getroffen werden, seien "immer subjektiv". Dass es aber Blender bevorzuge, glaubt er nicht. Zwei Bewerber hat er an diesem Tag abgelehnt, unter ihnen einen jungen Mann, der "wie Graf Koks" in sein Büro gekommen sei. "Er konnte nicht rüberbringen, dass er sich ernsthaft für die Sache interessiert." Ein anderes Mal, erzählt Bungartz, saß ein Koch vor ihm. Als im Restaurant die IT ausfiel, habe er gebastelt, bis sie wieder lief - und gemerkt, dass Informatik seine Berufung sei. Das Abi holte er in der Abendschule nach. Bungartz gab ihm eine Chance, "natürlich" sagt er.

Doch Motivation reicht nicht, sie darf als "weiches Kriterium" gar nicht in die Bewertung einfließen. Wichtig sind andere Dinge. Eine Frage, die Bungartz gerne stellt: Nach welchem System die Bewerber 100 Menschen der Körpergröße nach sortieren würden. Entscheidend ist die Herangehensweise, nicht die Lösung. Auch Maximilian Zimmer musste eine Denksportaufgabe lösen. "Fand ich super", sagt er. Bungartz und sein Kollege waren sich nach dem Gespräch einig, dass Zimmer fürs Informatikstudium geeignet sei. Zimmer, sagt Bungartz, sei "ein klassischer Nerd".

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