Studium:Ein Seminar ist nur so gut wie seine Teilnehmer

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Studierende in einem Hörsaal der Münchner LMU (Foto: Catherina Hess)

Ständig wird über eine Anwesenheitspflicht für Studierende diskutiert. Dabei schulden sie der Uni und den Kommilitonen mehr als reine Anwesenheit.

Gastbeitrag von David Lauer

An vielen Universitäten wurde zuletzt über die Anwesenheitspflicht Studierender in Seminaren diskutiert, ein Disput in Mannheim landete gar vor dem Verwaltungsgerichtshof. Eine Frage wird in der Debatte jedoch selten gestellt: die Frage, gegenüber wem eine solche Pflicht eigentlich bestehen sollte. In der Regel sind sich Gegner wie Verteidiger der Anwesenheitspflicht einig in der Annahme, dass es um eine Pflicht der Studierenden gegenüber der Leiterin des Seminars oder gar gegenüber der Universität gehen müsse. Beide Seiten irren.

Wenn ich Mitglied in einem Ensemble werde - einer Band, einer Theatergruppe oder einem Chor -, dann wird von mir erwartet, dass ich zu den Proben erscheine und mich einbringe. Werde ich Mitglied einer Sportmannschaft, so wird von mir erwartet, dass ich zum Training komme und mich anstrenge. Häufig wird es einen Chorleiter oder eine Trainerin geben, der oder die auf die Erfüllung solcher Erwartungen achtet.

Aber es ist nicht in erster Linie diese Person, der ich Anwesenheit und Mitarbeit schulde. Es sind die anderen Mitglieder des Ensembles oder der Mannschaft, denen ich verpflichtet bin. Warum? Weil die Erzeugung eines druckvollen Backbeats, einer sauberen Polyphonie oder eines präzisen Passspiels eines gemeinsam haben: Es handelt sich um kollektive Aktivitäten mit der Eigenschaft, dass das gesamte Kollektiv schlechter wird, wenn nur ein einziges Mitglied nicht mitarbeitet. Man kann nur gemeinsam erfolgreich sein. An einer solchen Aktivität teilzunehmen, bedeutet daher, einem Gesellschaftsvertrag im Kleinen beizutreten: Die Mitglieder des Kollektivs versprechen und schulden einander Engagement.

Ein Seminar ist der Form nach ebenso ein Kollektiv wie das Ensemble oder die Mannschaft. Und wenngleich die Studierenden selten für ein gemeinsames Ziel arbeiten, so lernen die Mitglieder eines Seminars doch in erster Linie voneinander, durch kontroverse Diskussion. Nichts kann die kooperative Bildungserfahrung eines solchen Gesprächs ersetzen.

Das Gespräch indes wird für alle Teilnehmenden schlechter, wenn einzelne Studierende nach Belieben erscheinen oder auch nicht, sich einbringen oder auch nicht. Der Erfolg jedes Einzelnen hängt vom Einsatz aller ab. Wer sich nicht engagiert, schädigt unmittelbar die Interessen aller. Deshalb ist die Auffassung, es sei jedermanns Privatangelegenheit, ob er oder sie in einem Seminar mitarbeite, falsch. Wer beitritt, verpflichtet sich zur regelmäßigen und aktiven Teilnahme - und zwar gegenüber den Mitstreiterinnen und Mitstreitern des Seminars.

Die Seminarleiterin hingegen, die durch Führung einer Anwesenheitsliste alle dazu anhält, der Pflicht auch dann nachzukommen, wenn der innere Schweinehund mal einen Extraknochen fordert, übt diesen undankbaren Job nur verwaltend aus. Sie ist nicht die Instanz, der die Pflicht geschuldet wird.

Diese grundlegende Einsicht ist auf beiden Seiten der Debatte in Vergessenheit geraten. Manche Lehrpersonen verstehen sich so, als seien in erster Linie sie es, denen Studierende die Anwesenheit schulden. Mit Recht weisen die Studierenden dies als Zumutung zurück. Im Gegenzug jedoch leiten sie daraus ab, es sei ihre Entscheidung, ob sie zu einer Seminarsitzung erscheinen. Damit begehen sie nicht nur - spiegelbildlich - denselben Denkfehler, sie verstricken sich auch in einen Widerspruch.

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In anderen Kontexten nämlich beklagen die Studierenden gern ihre existenzielle Vereinzelung an der Massenuniversität. Sie fühlen sich unter dem Effizienzimperativ der quantitativen Studienerfolgsmessung als Konkurrenten in den Kampf um credit points hineingetrieben. Geht es aber um die Idee einer Mitarbeitspflicht in Seminaren, so propagiert man im Namen der "Selbstbestimmung" genau den beziehungslosen Individualismus, den man gerade noch anprangerte.

Freilich wäre es ungerecht, die Blindheit für diesen Selbstwiderspruch allein den Studierenden anzulasten. Auch die Universitäten müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, durch die in den vergangenen zwanzig Jahren betriebene Ökonomisierung ihres Selbstverständnisses an der Zerstörung der normativen Grundlagen mitgewirkt zu haben. Ohne diese ist es ihnen nun unmöglich, eine Mitarbeitspflicht in Seminaren gegenüber den Studierenden glaubwürdig zu vertreten.

Aus den Gesichtern derer, die einander Mitstreiterinnen und Mitstreiter sein sollten, starrt ihnen der auf eigene Rechnung handelnde homo oeconomicus entgegen, den sie gerufen haben. Allein die Wiederbelebung der Idee eines Seminars als Bildungsgemeinschaft, aus der die individuelle Pflicht hervorgeht, zum kollektiven Erfolg das Seinige beizutragen, könnte daran grundlegend etwas ändern.

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