Süddeutsche Zeitung

Studie:Die Kraft der zwei Sprachen

Lehrer aus Einwandererfamilien schaffen es besonders gut, Kindern beim Lesenlernen zu helfen.

Von Paul Munzinger

Die Vielfalt in deutschen Klassenzimmern ist groß und sie wird immer größer. Die Vielfalt in deutschen Lehrerzimmern kann da nicht mithalten. Während - Stand 2018 - ein Drittel der Schülerinnen und Schüler Vorfahren hat, die nicht aus Deutschland kommen, trifft das gerade mal auf zehn Prozent der Lehrerinnen und Lehrer zu. Es ist ein Missverhältnis, das seit Langem diagnostiziert ist. Schon 2007 setzten sich die Bundesländer zum Ziel, mehr Lehrkräfte mit Migrationshintergrund anzuwerben - mit bislang mäßigem Erfolg. Sie sollen, so die Hoffnung, Vorbilder und Brückenbauer sein für Kinder aus Einwandererfamilien, die im Durchschnitt noch immer schlechtere Leistungen erzielen.

Doch ist diese Hoffnung überhaupt berechtigt? Nein, ist sie nicht, zu diesem überraschend klaren Befund kamen vor einigen Jahren Berliner Bildungsforscher um Martin Neugebauer. Sie stellten keinerlei positiven Einfluss auf Schüler mit Migrationshintergrund fest. Ja, ist sie doch - aber anders als erwartet, sagt nun die Ökonomin Lisa Sofie Höckel vom RWI - Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Essen. In einer noch unveröffentlichten Studie, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt, kommt sie zu dem Ergebnis, dass Lehrerinnen und Lehrer nicht-deutscher Herkunft die Leseleistungen ihrer Schüler verbessern - und zwar aller Schüler, egal wo deren Eltern oder Großeltern herkommen.

Besonders stark war der Effekt auf Schüler, die selbst Wurzeln außerhalb Deutschlands haben

Höckel wertete für ihre Studie Daten von Fünft- bis Neuntklässlern aus dem Nationalen Bildungspanel (NEPS) aus. Die sogenannte Längsschnittstudie begleitet die Schulkarrieren Tausender Kinder über Jahre und erfasst dabei nicht nur Noten, sondern testet auch selbst Kompetenzen. Höckel suchte in den Daten nach statistischen Auffälligkeiten bei Schülern, die erst eine Lehrkraft ohne und im Jahr darauf mit Migrationshintergrund hatten. Im Fach Mathe wurde sie nicht fündig, aber beim Lesen. Die Leistungen der Schüler verbesserten sich hier signifikant, der Effekt, so Höckel, sei "beachtlich". Er sei ähnlich groß wie das Leistungsgefälle zwischen Schülern mit und ohne Migrationshintergrund - und doppelt so groß wie der Unterschied zwischen Mädchen und Jungen.

Besonders stark war der positive Effekt auf Schülerinnen und Schüler, die selbst Wurzeln außerhalb Deutschlands haben. Höckel führt dies darauf zurück, dass diese Schüler Lehrer, die ebenfalls eine Migrationsgeschichte haben, als Vorbilder sehen. In Befragungen gaben sie an, dass sie sich von ihnen eher verstanden und stärker in den Unterricht eingebunden fühlen. Dass die Lehrer diese Schüler womöglich bevorzugen, schließt Höckel dagegen aus; das verbürgten die im Rahmen des NEPS durchgeführten Tests, an deren Auswertung die Lehrer nicht beteiligt sind.

Doch die Vorbildfunktion der Lehrer ist in der Studie eher ein Seitenaspekt, den Höckel nicht überbewerten will. Die wichtigste Erkenntnis ist in ihren Augen etwas anderes: nämlich die Beobachtung, dass sich der bei Weitem stärkste positive Effekt bei Lehrkräften zeigt, deren Muttersprache nicht oder nicht nur Deutsch ist. Nicht der (als Kategorie ohnehin fragwürdige) Migrationshintergrund stellt sich damit als entscheidender Faktor heraus, sondern die Zweisprachigkeit. Das erklärt auch, warum alle Schüler beim Lesen von einer nicht-deutschen Herkunft ihrer Lehrer profitieren. Denn im Fall der Schüler ohne Migrationshintergrund spricht nichts für eine Vorbildfunktion, im Gegenteil: Diese Schüler bewerteten jene Lehrer am besten, die wie sie keinen Migrationshintergrund haben.

Die Ursache für diese Steigerung geben die Zahlen natürlich nicht preis. Aber die Vermutung liegt nahe, sagt Höckel, dass Lehrkräfte, die mit zwei Muttersprachen aufgewachsen sind, Sprachen im Allgemeinen besser vermitteln können. Ihre Arbeit sieht sie daher auch nicht im Widerspruch zu jener des Teams aus Berlin. Lehrer mit Migrationshintergrund, das ist ja auch ihr Ergebnis, fungieren nicht als Brückenbauer speziell für Schüler, die ebenfalls einen Migrationshintergrund haben - sondern für alle.

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SZ vom 10.08.2020
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