Sprachunterricht:Mathe, Deutsch, Muttersprache

Flüchtlingskinder in der Schule

Fingerzeig: Wenn Kinder von Einwanderern ihre Muttersprache verlernen, gehen Chancen für den späteren Berufsweg verloren.

(Foto: Peter Steffen/dpa)
  • An vielen deutschen Schulen haben Kinder mit Migrationshintergrund die Möglichkeit im Muttersprachlichen Ergänzungsunterricht (MEU) ihre Muttersprache zu lernen.
  • Die Zusatzstunden finden meist auf Initiative der Eltern statt, werden aber in der Regel von den Schulen unterstützt.
  • Speziell beim türkischen MEU ist jedoch umstritten, dass dieser vom türkischen Staat organisiert und finanziert wird.

Von Kathrin Schwarze-Reiter

Wo Ankara liegt, will Kurt Mehmet Dinler wissen. "Ankara nerede?" Güney muss nach vorne. Der Elfjährige zeichnet die türkische Hauptstadt zwar 300 Kilometer zu weit westlich auf der Karte ein, doch Türkischlehrer Dinler tadelt nicht, er ermutigt den Jungen, es beim nächsten Mal besser zu machen.

Güney besucht einmal pro Woche den sogenannten Muttersprachlichen Ergänzungsunterricht (MEU). Er hat nie in der Türkei gelebt, deshalb ist sein Deutsch besser als sein Türkisch. Lehrer Kurt Mehmet Dinler, der in Köln geboren ist und in der Türkei studiert hat, verbessert ihn geduldig. Der 46-Jährige unterrichtet an der Mittelschule Eichstätt-Schottenau auf Initiative von Eltern, die wollen, dass ihre Kinder auch Türkisch richtig in Wort und Schrift beherrschen. Es gibt dafür keine Noten, lediglich eine lobende Erwähnung im Zeugnis. Die Muttersprache wird zum Wahlunterricht.

Behindert Unterricht in der Muttersprache die Integration?

Nachdem im vergangenen Jahr etwa zwei Millionen Zuwanderer nach Deutschland gekommen sind, ist die politische Diskussion um MEU wieder entbrannt: Steht Migranten der Unterricht in ihrer Muttersprache im Weg, wenn sie doch so schnell wie möglich Deutsch lernen sollten? Behindert der MEU sogar die Integration und schafft Sprachinseln? Warum gibt der Staat Geld für Sprachunterricht in Arabisch, Türkisch oder Spanisch aus?

Dabei gibt es den MEU in Deutschland schon seit mehreren Jahrzehnten. In allen Bundesländern wird meist am Nachmittag kostenlos Türkisch, Arabisch, Portugiesisch, Spanisch oder Russisch unterrichtet - je nach Bedarf. In Bayern vor allem Türkisch, in Hamburg Portugiesisch oder in Brandenburg Vietnamesisch. Vieles passiert auf Initiative der Eltern hin, unterstützt von Schulleitern, die bereitwillig die Klassenräume zur Verfügung stellen. Bezahlt werden die Sprachlehrer von den Eltern oder den Konsulaten. Manche arbeiten auch ehrenamtlich. Der deutsche Staat mischt sich kaum ein. Das heißt auch, dass die Schulleiter und die Kultusministerien oft wenig Einblick haben, was im Unterricht durchgenommen wird.

Der Stundenplan kommt vom türkischen Staat

In Eichstätt singt Kurt Mehmet Dinler mit den Kindern traditionelle Lieder und begleitet diese auf der Baglama, einer Art Laute. Die Schüler müssen Großstädte und Flüsse in Deutschland und der Türkei auf einer Folie einzeichnen. Dann wird die türkische Grammatik durchgenommen. Die Schüler sind eifrig bei der Sache, fast immer melden sich alle. "Schüler, die ihre Muttersprache gut beherrschen, sind auch im Deutschen besser", beobachtet Erich Kraus, Schulleiter der Mittelschule Eichstätt-Schottenau. Er stellt Kurt Mehmet Dinler daher gerne einen Klassenraum zur Verfügung und nimmt auch Schüler anderer Schulen in den Kurs auf. Für die Organisation und den Lehrplan ist er jedoch nicht verantwortlich.

Sprachunterricht: Sprache ist nicht alles: Kurt Mehmet Dinler bringt seinen Schülern nicht nur türkische Grammatik, sondern auch traditionelle Lieder bei.

Sprache ist nicht alles: Kurt Mehmet Dinler bringt seinen Schülern nicht nur türkische Grammatik, sondern auch traditionelle Lieder bei.

(Foto: Kathrin Schwarze-Reiter)

Der Stundenplan kommt vom türkischen Staat. Auch das Gehalt der Lehrer - etwa 2000 Euro plus Fahrtgeld - und die Schulbücher stellt die Türkei. Der türkische Bildungsattaché in Bayern, İlyas Öztürk, wollte Letzteres in seiner Amtszeit ändern: "Die Lehrbücher sind für Schüler in der Türkei geschrieben und nicht für Kinder, die hier in Deutschland geboren sind", sagt er. Sie würden ein anderes Weltbild thematisieren, das das Leben in der Türkei und nicht in Deutschland zeigt.

Auch in anderen Bereichen wollte Öztürk den türkischen Sprachunterricht umkrempeln: Die Abstimmung zwischen dem deutschen und dem türkischen Staat verbessern, den Stundenplan mehr am deutschen Schulsystem ausrichten, den Unterricht von zwei auf vier Stunden pro Woche aufstocken und mehr Lehrer nach Deutschland holen - kurz: Öztürk wollte dem Unterricht mehr Bedeutung geben und ihn ausbauen. Inzwischen ist er abberufen. Eine Meinung hat er dennoch.

Derzeit arbeiten in Deutschland etwa 500 Türkischlehrer. Zu wenig, sagt Öztürk, der Bedarf an Sprachkursen sei größer als das Angebot. Die Lehrer werden in der Türkei ausgebildet und dürfen für fünf Jahre in Deutschland unterrichten, eine Verlängerung um weitere fünf Jahre ist möglich. Dann müssen sie zurück in ihr Heimatland. Andere Länder sind nicht so streng.

München ist die einzige Stadt ohne Ergänzungsunterricht

In Kurt Mehmet Dinlers Türkischunterricht kommen die Schüler teilweise von weit her. Viele Schüler, die ihr Türkisch gern verbessern würden, finden keinen Unterricht in der Nähe.

In München gibt es gar keinen türkischen Ergänzungsunterricht. Dabei haben im vergangenen Jahr 39 Schulen in München und mehr als 366 Schüler ihr Interesse bekundet. Damit ist die bayerische Hauptstadt die einzige Stadt in Deutschland, die keinen MEU in Türkisch anbietet. "Seit 2004 besteht dieses Problem", beklagt der ehemalige Bildungsattaché Öztürk. "Damals hat die bayerische Staatsregierung beschlossen, die Finanzierung des MEU zurückzufahren." Die Stadt München teilt auf Anfrage mit, dass gar kein entsprechender Antrag auf Förderung und Durchführung des MEU gestellt worden sei.

Der türkische Staat wiederum sieht die Verantwortung bei der bayerischen Landesregierung, denn der MEU sei nicht Privatangelegenheit von Familien und Konsulaten, sondern eine Sache des Staates: "Nur in Bayern werden Raum- und Versicherungskosten für die Kinder erhoben: zwei Euro plus Mehrwertsteuer pro Stunde", sagt Öztürk. "Diese sollen die Konsulate der Heimatländer tragen. Der Ausländerbeirat der Türkei ist dazu jedoch nicht bereit. Er will erreichen, dass die Kosten aufgehoben oder auch künftig vom bayerischen Freistaat gedeckt werden."

"Wenn Kinder ihre Muttersprache nur sprechen und nicht schreiben, werden sie sie nie perfekt erlernen"

Eine verfahrene Situation - so sieht das auch Claudia Maria Riehl, Leiterin des Instituts für Deutsch als Fremdsprache an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Viele Jahre hat Riehl den Nutzen des MEUs erforscht: "Wenn Kinder ihre Muttersprache zu Hause nur sprechen und nicht schreiben, werden sie sie nie perfekt erlernen. Sie bleiben einsprachig. Für den späteren Berufsweg gehen damit viele natürliche Ressourcen verloren."

Kinder, die in ihrer Muttersprache eine hohe Kompetenz haben, sind auch in der deutschen Sprache besser - das beweisen verschiedene wissenschaftliche Studien. Vor allem in Sprachen mit anderen Alphabeten wie Kyrillisch, Griechisch, Chinesisch oder Arabisch ist das Erlernen der Schriftsprache unverzichtbar. Deshalb fordert auch Riehl einen Ausbau des Sprachunterrichts: "In zwei Nachmittagsstunden kann man solch komplexe Sprachen nicht erlernen. Der MEU müsste in den Lehrplan integriert, Noten vergeben und ausgebildete Lehrer eingesetzt werden."

Damit hätten die Kultusministerien auch einen Einblick in den Unterricht - denn derzeit haben die Bundesländer keinerlei Kontrolle darüber, was in den Sprachstunden durchgenommen wird und welche Unterrichtsmethoden angewandt werden. Riehl sieht dies als unhaltbaren Zustand. Nur durch eine qualitative Überprüfung des Unterrichts könne das Risiko von Parallelgesellschaften gemindert werden.

"Nur wer seine Wurzeln kennt, kann sich auch in der neuen Heimat wohl fühlen"

Ein Bundesland, das da schon weiter ist, ist Brandenburg. Der Muttersprachliche Ergänzungsunterricht ist hier gesetzlich verankert: Der Unterricht ist als Arbeitsgemeinschaft konzipiert und wird von Experten überprüft. Im vergangenen Jahr lernten hier 550 Schüler Arabisch, Polnisch, Vietnamesisch, Russisch und Spanisch. Projektleiter besuchen die Schulen und können Vorbehalte bei Eltern und Lehrern in der Regel ausräumen.

Politik, Schulen und Lehrkräfte stehen vor großen Herausforderungen durch die vielen neu ankommenden Flüchtlinge. Auch deswegen fordert Institutsleiterin Claudia Maria Riehl, dass man diese nun schnell erkennt und angeht. Man dürfe nicht wieder eine Generation verlieren, wie es bei den zugewanderten Türken geschehen ist. Diese beherrschten ihre Muttersprache oft nicht mehr. Die Lösung sei professioneller, arabischer Sprachunterricht. Nur so könne man die Schüler langfristig sinnvoll integrieren, sagt Riehl. Diese Erfahrung hat auch der Lehrer Kurt Mehmet Dinler gemacht: "Nur wer seine Wurzeln kennt, kann sich auch in der neuen Heimat wohl fühlen. Sonst ist man nirgends zu Hause."

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