Süddeutsche Zeitung

Deutsche Sprache:Wenn selbst einfache Sätze zur Qual werden

  • Bei etwa 6,2 Millionen Erwachsenen in Deutschland reichen die Lese- und Schreibkompetenzen nicht für eine volle berufliche, gesellschaftliche und politische Teilhabe aus.
  • Dies zeigt die zweite große Leo-Studie, zuletzt waren 2010 Zahlen erhoben worden.
  • Damals waren es noch 7,5 Millionen, also 1,3 Millionen Menschen mehr, die kaum lesen und schreiben konnten.

Von Susanne Klein

Oft ist es ein einschneidender Moment, an dem es nicht mehr weitergeht. Wenn ein sehr guter Metallarbeiter in den Betriebsrat gewählt wird und dort plötzlich ein Protokoll schreiben soll. Oder wenn ein anderer, auch sehr guter Arbeiter gefragt wird, willst du nicht Vorarbeiter werden? Ein verlockendes Angebot - wäre da nicht der Papierkram, der in dieser Position erledigt werden muss.

Es sind solche Geschichten, die Anke Grotlüschen am Rande ihrer Recherchen aufsammelt. Die Professorin für Lebenslanges Lernen an der Universität Hamburg hat sich auf die Schwierigkeiten spezialisiert, die Menschen beim Lesen und Schreiben haben. Nach acht Jahren Pause hat sie gerade ihre zweite repräsentative Studie zu dem Thema fertiggestellt. "Leo - Leben mit geringer Literalität" heißt die Untersuchung, die sie an diesem Dienstag im Bundesbildungsministerium in Berlin präsentiert, das die Untersuchung gefördert hat; der Süddeutschen Zeitung liegt die Studie bereits vor. Grotlüschens erste Botschaft: Bei etwa 6,2 Millionen Erwachsenen in Deutschland reichen die Lese- und Schreibkompetenzen nicht für eine volle berufliche, gesellschaftliche und politische Teilhabe aus.

Die Zahl klingt besorgniserregend, enthält aber auch eine gute Nachricht: 2010 waren es noch 7,5 Millionen, also 1,3 Millionen Menschen mehr, die so schlecht lesen und schreiben konnten, dass sie selbst an einfachen deutschen Texten scheiterten. Damit ist die "geringe Literalität", wie Grotlüschen es nennt, weil der Begriff Analphabetismus auf diese Menschen nicht passt, von 14,5 auf 12,1 Prozent gesunken.

"Mit dieser Entwicklung bewegen wir uns auf internationalem Niveau, auch in anderen Ländern haben sich die Lese- und Schreibfähigkeiten im Laufe der Jahre leicht verbessert", sagt Grotlüschen. Den Effekt schreibt sie der höheren Schulqualität zu. "Bis vor acht Jahren haben die Schulen noch mehr Schüler in die Welt entlassen, die nicht richtig schreiben und lesen konnten." Zwar seien Menschen mit diesen Defiziten mehrheitlich erwerbstätig, meist jedoch als Geringverdiener. "Jeder Zweite ist finanziell nicht in der Lage, eine Woche Urlaub außerhalb der eigenen Wohnung zu machen", erklärt die Studienleiterin. Zwei Drittel hätten zudem große Schwierigkeiten, politische Fragen zu verstehen und einzuschätzen.

Fast 7200 Deutsch sprechende Erwachsene im Alter von 18 bis 64 Jahren haben die Professorin und ihre Kollegen 2018 befragt, jeweils etwa eine Stunde lang. Auch Lese- und Schreibaufgaben gehörten dazu, etwa die Fortsetzung einfacher Satzanfänge oder das Diktieren von Wörtern wie Bäcker, Pflaster, Auffahrt, Urlaub. Knapp 870 Befragte waren davon mehr oder weniger überfordert - jene 12,1 Prozent der Gesamtbevölkerung, deren Lese- und Schreibvermögen auf einem der drei untersten Kompetenzniveaus liegt.

Dabei sind es bei weitem nicht nur Migranten, die es wegen ihrer sprachlichen Nachteile in Deutschland beim Lesen und Schreiben schwer haben. 53 Prozent der Betroffenen sprechen Deutsch als Muttersprache - demnach sind gut sieben Prozent der deutschmuttersprachigen Gesamtbevölkerung gering literalisiert. Die übrigen Betroffenen haben eine andere Muttersprache gelernt und geben zu fast 80 Prozent an, in dieser Sprache sehr wohl anspruchsvolle Texte lesen und schreiben zu können. Im Deutschen aber stellen diese Personen mit einer anderen Herkunftssprache mit 43 Prozent einen weit höheren Anteil, der schlecht Deutsch lesen und schreiben kann. Geflüchtete Menschen, die nicht der deutschen Wohnbevölkerung angehören, sondern etwa in Asylunterkünften leben, haben an der Studie nicht teilgenommen.

Anke Grotlüschen befürchtet, dass die 6,2 Millionen Personen in Deutschland, die schlecht lesen und schreiben, zu den Verlierern der Digitalisierung gehören werden. Schon jetzt erlaubt ihre Studie Rückschluss darauf, dass dem so ist: Diese Menschen benutzen deutlich seltener einen Computer mit Internetzugang, schreiben deutlich seltener E-Mails und seltener Kurznachrichten. "Die Digitalisierung macht es ihnen entschieden schwerer, im Leben klarzukommen, wenn man wenig lesen oder schreiben kann", sagt die Professorin. Sobald etwas im Alltag durch Lesen und Schreiben bewältigt werden müsse, zum Beispiel ein Überweisungsformular, dann "wird das noch einmal doppelt so schwer, wenn man es online machen muss, so Grotlüschen. Schreiben an sich falle diesen Menschen schon schwer, tippen aber noch schwerer, zudem müsse man mit dem Computer oder Apps umgehen können.

Einen Vorteil bieten allerdings die sozialen Medien mit ihren kurzen Botschaften und Sprachnachrichten. Erstere "folgen der Logik des gesprochenen Worts, da ist es nicht so wichtig, ob grammatikalisch und orthografisch alles richtig ist", sagt Grotlüschen. Und die Sprachnachrichten bezeichnet sie als "eine gute Möglichkeit der Teilhabe in sozialen Netzwerken".

Wenn die Hamburger Wissenschaftlerin ihre Studie vorstellt, wird sie in prominenter Begleitung sein. Bundesbildungsministerin Anja Karliczek hat sich angekündigt, der hessische Kultusminister Alexander Lorz, in diesem Jahr Präsident der Kultusministerkonferenz, will ebenfalls kommen. Auch Betroffene werden da sein und Vertreter der vielen Programme, in denen Betroffenen geholfen wird. Denn am Ende geht es um Weiterbildung, und da ist die Resonanz auf Angebote noch erschreckend klein. Gerade einmal 0,7 Prozent der gering literalisierten Personen nahmen an einem Alphabetisierungskurs teil.

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