Soziale Unsicherheit bei Kindern:Zu schüchtern für die Schule

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Mit der richtigen Förderung haben auch schüchterne Kinder Spaß an der Schule. (Symbolbild)

(Foto: dpa)

Sie trauen sich nicht, ihren Namen laut vor der Klasse zu sagen. Die Schule stellt schüchterne Kinder bisweilen vor unüberwindbare Hindernisse. Wie Eltern und Lehrer helfen können - und wann Schüchternheit krankhaft wird.

Von Johanna Bruckner

Als Mia zwei ist, versteckt sie sich hinter den Beinen ihrer Mutter, wenn Kinder oder Erwachsene sie auf dem Spielplatz ansprechen. Eine normale Entwicklungsphase, versichert die Kinderärztin den Eltern. Mit vier geht Mia gerne in den Supermarkt, die Scheibe Wurst an der Frischetheke muss jedoch ihr Vater entgegennehmen; Mia hat das Gesicht an seiner Schulter vergraben, vermeidet jeden Blickkontakt mit der Verkäuferin. "Du warst als Kind auch schüchtern", beruhigt die Oma den besorgten Vater, "das verwächst sich." Doch dann kommt Mia in die Schule und das Problem verschärft sich: Als sie der Klasse ihr Lieblingsbuch vorstellen soll, bekommt sie Bauchschmerzen. Am Abend vor dem Flötenvorspiel weint sie so hysterisch, dass die Eltern sie daheim behalten. Sie fragen sich: Ist unsere Tochter krankhaft schüchtern?

"Normales Verhalten umfasst mehr, als manche Eltern denken", sagt Helga Ulbricht, Leiterin der Staatlichen Schulberatung in Bayern. "Kinder haben einen natürlichen Respekt vor Neuem und Fremdem." Dazu zählen Ulbricht zufolge auch soziale Situationen, in denen die Kinder nicht geübt sind. Das könne für ein Einzelkind das Zusammentreffen mit Gleichaltrigen auf dem Spielplatz sein oder der Auftritt vor Eltern in der Schule. Auch schüchterne Phasen in der Kindheit sind ganz normal. "Analog zum Trotzverhalten durchleben 90 Prozent der Kinder introvertierte Phasen, meist während eines Wachsstumsschubes, wenn sie einen Sprung in der geistigen Entwicklung machen, oder wenn sie länger krank waren. Sie sind dann eine Zeitlang scheu, hängen sehr stark an ihren Eltern", erklärt Ulrike Petermann, Professorin für Klinische Kinderpsychologie an der Universität Bremen.

Mütter und Väter verfolgen die Entwicklung ihres Kindes heute sehr genau und kritisch, wie Schulpsychologin Ulbricht beobachtet: "Sie wollen, dass die Tochter oder der Sohn die besten Chancen hat. Leider führt das dazu, dass Misserfolge überinterpretiert und schnell Defizite bei den Kindern diagnostiziert werden." Dabei seien schüchterne Kinder nicht zwangsläufig unglücklich: "Manchmal ist der Leidensdruck bei den Eltern höher als bei den Kindern." Auch Petermann erlebt in der Beratungspraxis, dass Eltern zwar sehr gut informiert seien. Das führe aber auch dazu, dass Befindlichkeiten des eigenen Kindes "dramatisiert" würden.

Vererbte Schüchternheit

Dabei ist Schüchternheit eines von mehreren Temperamentsmerkmalen, die zu einem Gutteil genetisch bedingt sind. "Häufig ist zumindest ein Elternteil auch eher zurückhaltend veranlagt", sagt Petermann. Die körperliche Dimension von Schüchternheit wird in der Fachliteratur als "behavioral inhibition system" oder auch "Verhaltenshemmungssystem" bezeichnet. "Physiologisch haben schüchterne Menschen eine niedrigere Erregungsschwelle: Sie zeigen bereits bei geringen Reizen eine erhöhte Aktivität im sympathischen Nervensystem", so die Expertin. "Man könnte auch sagen: Sie sind schneller aufgeregt als andere Menschen."

Messbar ist diese Aufregung unter anderem über erhöhte Speichelkortisol- und Noradrenalinwerte, bemerkbar wird sie auch für Außenstehende durch Erröten, schwitzige Hände und eine zittrige Stimme. Gegen den Stress entwickeln die Betroffenen Vermeidungsstrategien. "Schüchternheit äußert sich in einem sozialen Rückzugsverhalten. Schüchterne Mädchen und Jungen versuchen, unvertraute Situationen und Örtlichkeiten zu meiden." Bewegen sich die Kinder in einem vertrauten Umfeld, tritt die Schüchternheit komplett in den Hintergrund. "Sie sind zuhause vollkommen unauffällig, interagieren mit Mama, Papa, Geschwistern, Oma und Opa ganz intuitiv."

Wenn Schüchternheit krankhaft wird

Doch was ist, wenn ein Kind nicht nur schüchtern ist, sondern sich komplett abkapselt, in sozialen Situationen extreme Stressreaktionen wie Herzrasen und Schweißausbrüche zeigt? "Eine soziale Angst, oder auch: soziale Phobie, ist eine psychische Störung, die nicht selten aus einer Schüchternheit heraus entsteht", erklärt Kinderpsychologin Petermann. "Betroffene entwickeln eine übermächtige Angst, dass sich alle Augen auf sie richten. Sie werden von einer irrationalen Furcht getrieben, ein blamables oder erniedrigendes Verhalten zu zeigen und meiden deshalb jeglichen sozialen Kontakt - das geht hin bis zur völligen Isolation."

Menschen, bei denen die Schüchternheit nicht krankhaft ausgeprägt ist, nehmen zwar am Sozialleben teil. Doch auch sie fühlen sich unwohl, wenn sie im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Vor allem zwei Szenarien machen schüchternen Kindern Angst. "Das ist zum einen die Kontaktaufnahme mit fremden Personen", sagt Petermann. "Als Beispiel: Die Mutter besucht eine alte Freundin, die das Kind nicht kennt. Diese Freundin hat wiederum ein gleichaltriges Kind, ideale Spielgefährten, sollte man meinen. Doch ein schüchternes Kind braucht auch bei Gleichaltrigen eine bis anderthalb Stunden, um warm zu werden."

"Guten Tag" sagen als unüberwindbares Hindernis

Charakteristisch für schüchterne Menschen sei außerdem eine Bewertungsangst, sagt die Kinderpsychologin. "Das hat nichts mit Prüfungsangst zu tun." Betroffene spiegelten ständig ihr eigenes Verhalten und trauten sich selbst wenig zu. "Sie haben eine Ängstlichkeit, im sozialen Kontext nicht angemessenen zu reagieren und von anderen negativ bewertet zu werden." Für schüchterne Kinder stellen die einfachsten kommunikativen Handlungen deswegen ein unüberwindbares Hindernis dar. "Fremden die Hand geben und 'Guten Tag' sagen - das machen sie nicht." Wie bei Mia verschärft sich der Druck auf schüchterne Kinder in der Schule, denn dort wird von ihnen erwartet, sich am Unterricht und am Klassenleben zu beteiligen.

Petermann plädiert dafür, schüchterne Kinder schrittweise an soziale Situationen heranzuführen, die sie ein Leben lang begleiten werden. "Die Eltern sollten ihr Kind dazu anhalten, einem Sportverein beizutreten oder im Orchester mitzuspielen - durchaus mit einem gewissen Nachdruck." Auch Lehrer können schüchternen Schülern helfen. "Das erfordert ein gewisses pädagogisches Fingerspitzengefühl: Der Lehrer muss das Kind fordern und auch an die Überforderung heranführen. Aber so, dass das Kind die Situation gerade noch erfolgreich bewältigen kann."

Der Lehrer könne das Kind beispielsweise bei einer leicht zu lösenden Antwort aufrufen. "Wichtig ist dann: Der Lehrer muss sich in die Nähe des Kindes stellen, denn es wird vermutlich sehr leise sprechen. Er kann die Antwort gegebenenfalls laut für die Klasse wiederholen, sollte aber keinesfalls sagen: 'Und jetzt noch einmal so, dass dich alle hören, Katharina!' Denn damit rückt er das Kind in den Mittelpunkt - und davor haben schüchterne Kinder ja gerade Angst." Auch das Lob für die korrekte Antwort sollte aus diesem Grund nicht überschwänglich ausfallen. "Besser ist, wenn es der Lehrer bei einem knappen 'Das war die richtige Antwort' belässt, und dann mit seinem Unterricht weitermacht."

Falscher Beschützerinstinkt

Viele Eltern reagieren allerdings wie die von Mia, wenn sie die Stressreaktionen ihres Kindes auf bestimmte Situationen oder Ereignisse miterleben, weiß Schulpsychologin Ulbricht - sie wollen ihr Kind beschützen. "Für Mütter und Väter ist es natürlich nicht leicht, ihre Tochter oder ihren Sohn leiden zu sehen. Manche fragen sich, ob sie ihr Kind zu früh eingeschult haben und es überfordern", berichtet Ulbricht aus ihrer Beratungspraxis. "Aber die Schule soll nicht alles voraussetzen, sondern den Kindern in ihrer sozialen Entwicklung weiterhelfen."

Auch Petermann weiß um die Problematik überbehütender Eltern. "Studien zeigen, dass gerade Eltern, die selbst schüchtern sind, dazu neigen, ihrem Nachwuchs unangenehme Anforderungen und Pflichten im sozialen Kontext abzunehmen." Aber damit tun sie ihren Kindern keinen Gefallen. Denn die verinnerlichen, dass sie solche Situationen offensichtlich nicht alleine bewältigen können, und verlassen sich auch in Zukunft auf Mutter und Vater. "So wird ein Problemverhalten kultiviert", sagt die Expertin. Die Folge seien sozial-emotionale Entwicklungsdefizite: "Die Kinder wissen nicht: Wie verabrede ich mich? Ist ein Streit normal oder nicht? Wie finde ich Kompromisse?"

Die Kinderpsychologin hat ein Therapieprogramm für sozial unsichere Kinder - und deren Eltern - entwickelt, rät aber dazu, schüchterne Kinder besser frühzeitig zu fordern und zu fördern. "Nur so lernt das Kind: Ich kann das ja doch!"

Das Programm von Ulrike Petermann ist auch in Buchform erhältlich: Petermann, Ulrike, und Petermann, Franz (2010): Training mit sozial unsicheren Kindern (10. überarbeitete Auflage). Weinheim: Beltz.

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