Süddeutsche Zeitung

Sexuelle Vielfalt als Schulthema:"Wir haben keinen Bekehrungsauftrag"

In Baden-Württemberg wird erbittert darüber gestritten, inwieweit alternative Liebesformen Unterrichtsthema sein dürfen. In NRW ist zumindest die Politik schon weiter: Seit 2012 unterstützt das Schulministerium ein Projekt gegen Homophobie - doch nur sieben Schulen machen bislang mit.

Von Johanna Bruckner und Kathrin Haimerl

Im Herzen ist Baden-Württemberg eben doch ein erzkonservatives, reaktionäres Bundesland. Dieser Eindruck drängt sich angesichts der Diskussion auf, die im Ländle derzeit lebhaft bis erbittert geführt wird. Es geht darum, inwieweit die Themen Homosexualität und Transgender im Schulunterricht behandelt werden sollen. Der Widerstand gegen Pläne der grün-roten Landesregierung, alternative Liebes- und Lebensformen künftig fächerübergreifend zu thematisieren, scheint groß zu sein. Mehr als 113.000 Unterstützer hat die Online-Petition "Zukunft - Verantwortung - Lernen: Kein Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regenbogens" seit November bis heute gesammelt. Die CDU-Führung zeigt sich solidarisch mit den Skeptikern eines Sex-Toleranz-Unterrichts. Und anderswo?

Während in Baden-Württemberg heftig debattiert wird, haben sich die Kultusministerien anderer Bundesländer in den vergangenen Tagen überwiegend einmütig geäußert: Bei uns ist das Thema kein großes Thema - und damit auch kein Problem. Wobei hinter dem Konsens natürlich eine durchaus vielfältige Verankerung und Ausgestaltung steckt - und das Problembewusstsein innerhalb eines Bundeslandes auch abweichen kann. So hält Bayerns Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) die bisherige Vermittlung des Themas Homosexualität eingebettet in die Werteerziehung für ausreichend. Dagegen sagte die Grünen-Abgeordnete Claudia Stamm: "Bayern ist in diesem Punkt Entwicklungsland."

Vorbildlich in Sachen schulische Toleranzlehre scheint auf den ersten Blick Nordrhein-Westfalen zu agieren. Dort existieren bereits seit 1999 "Richtlinien für die Sexualerziehung", die im Schulgesetz festgeschrieben sind. Dort heißt es explizit:

Die Sexualerziehung dient der Förderung der Akzeptanz unter allen Menschen unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung und Identität und den damit verbundenen Beziehungen und Lebensweisen.

Sieben von 6000

Seit 2012 unterstützt das Schulministerium von Ministerin Sylvia Löhrmann (Die Grünen) außerdem das Antidiskriminierungsprojekt "Schule der Vielfalt - Schule ohne Homophobie". Doch trotz der prominenten Unterstützung sei es nach wie vor schwierig, Kooperationspartner zu gewinnen, sagt Landeskoordinator Frank G. Pohl. Mehr als 6000 Schulen gibt es in NRW, 300 Schulleitungen hat Pohl im vergangenen Jahr angesprochen - "aktuell arbeiten wir mit sieben Schulen zusammen." Die niedrige Zahl hat wohl weniger mit einer generellen Projektunlust als vielmehr dem Thema zu tun: Zum Vergleich nennt Pohl 350 Projektschulen in NRW zum Thema Rassismus.

Damit eine Zusammenarbeit zustande kommen kann, braucht es die Zustimmung der Schulkonferenz, in der Lehrer, Eltern und Schüler vertreten sind. Neben fehlenden Personalressourcen sieht Pohl vor allem zwei Gründe für die ablehnende Haltung der Bildungsinstitutionen. Zum einen löse das Thema Sexualität im Allgemeinen und Homosexualität im Besonderen immer noch einen schambedingten Abwehrmechanismus aus - auch bei Schulen. "Viele sind froh, wenn sie die Sexualerziehung an externe Einrichtungen wie Pro Familia abgeben können." Sexualität in jedweder Form werde allzu oft auf die biologischen Aspekte reduziert. "Dabei wird vernachlässigt, dass es um Beziehungen, Partnerschaft und Lebensentwürfe geht."

Tatsächlich sind Lehrer mitunter schlicht überfordert, wenn sie mit dem konfrontiert werden, was ihre Schüler über Sexualität und Homosexualität gehört und gesehen haben. Heide Knödler, 65, Bio-Lehrerin an einem baden-württembergischen Gymnasium berichtet von einer jungen Kollegin, die sich für eine Lehreinheit in Sexualkunde lieber Hilfe von außen geholt habe. "Heutzutage werden schon im Nachmittagsfernsehen alle möglichen Sexualpraktiken thematisiert. Da kommt die Sprache im Unterricht ganz schnell auf Analverkehr - und dann wollen die Schüler das aber in allen Details wissen", berichtet Knödler.

Diese vermeintliche sexuelle Aufgeklärtheit ist laut Pohl ein weiterer Grund, den Schulen gegen das Antidiskriminierungsprojekt anbringen. Denn alternative Liebesformen sind den meisten Jugendlichen heute ein Begriff. "Da heißt es dann: 'Wieso sollte man heute noch über Homosexualität reden - das ist doch längst normal!'" Wobei das Wissen von Mädchen und Jungen vor allem ein klischeelastiges Medienwissen ist. "Viele Jugendliche kennen persönlich keine Lesben und Schwulen", sagt Pohl, selbst Lehrer für Geschichte und Sozialwissenschaften. So können sich falsche Vorstellungen und Vorurteile verfestigen.

"Schwuchtel" ist nach einer Studie der HU Berlin eines der gängigsten Schimpfwörter auf Schulhöfen in der Hauptstadt - und vermutlich auch in der restlichen Republik. Dass solche Ausdrücke oft losgelöst vom eigentlichen Kontext verwendet werden, macht die Sache für Pohl nicht besser, im Gegenteil. "Auch wenn ein Grundschüler vielleicht nicht weiß, was 'schwul' bedeutet, weiß er doch, dass das Wort negativ konnotiert ist - und wirft es einem Mitschüler an den Kopf, um ihn zu verletzen." Das Projekt "Schule gegen Homophobie" sei 2008 nicht zuletzt aus der Erkenntnis heraus entstanden, dass Gewalt gegen Lesben und Schwule an Bildungseinrichtungen ein Problem sei, erläutert Pohl. "Schule ist ein homophober Ort."

Am wenigsten müsse man davon die Schüler selbst überzeugen. "Wenn man ihnen erklärt, was Homophobie bedeutet, sagen die meisten: 'Klar, das gibt es bei uns.'" Das Projekt unterstützt Schulen mit Unterrichtsmaterialien zum Thema und bietet regelmäßig Fortbildungen für Lehrer und Workshops für Schüler an. Letztere werden mit jungen Lesben und Schwulen ins Gespräch gebracht. "Wichtig ist, dass die Ansprechpartner altersmäßig nicht so weit weg sind." Die Schülerinnen und Schüler dürfen Fragen stellen und auch Vorbehalte äußern. "Kinder aus einem religiösen Elternhaus sollen unbedingt auch ihre Meinung sagen. Wir haben keinen Bekehrungsauftrag", betont Pohl, "uns geht es darum, das Thema zu enttabuisieren und für Diskriminierung zu sensibilisieren."

"Das ist Indoktrination und Umerziehung"

Dass das - aller vermeintlichen gesellschaftlichen Aufgeklärtheit zum Trotz - dringend notwendig ist, zeigt nicht zuletzt die Debatte um den Bildungsplan in Baden-Württemberg. Zwar formiert sich im Netz mittlerweile Widerstand gegen den Widerstand: Sowohl auf der Plattform "Open Petition", auf der Realschullehrer Gabriel Stängle seine Petition veröffentlichte, als auch via campact.de wurden Gegenpetitionen gestartet. Dort haben sich mittlerweile ebenfalls Zehntausende eingetragen. Doch Kommentare von Stängle-Unterstützern wie dieser zeigen, dass Furcht vor Homosexualität nach wie vor existiert:

In einem Arbeitspapier des Landes BW zur Bildungsreform 2015 heißt eines der Ziele ausdrücklich 'Akzeptanz sexueller Vielfalt'. Akzeptanz im Unterschied zu Toleranz. (...) Das ist nichts anderes als Indoktrination und Umerziehung!

Inwieweit Stängles Petition politische Konsequenzen haben wird, bleibt abzuwarten. Für Online-Petitionen gilt seit 2005 ein spezielles Quorum: Wenn sich innerhalb von vier Wochen mehr als 50.000 Unterstützer finden, muss die Petition öffentlich verhandelt werden. Der Initiator darf sein Anliegen im Petitionsausschuss des Bundestags vortragen - sofern sich nicht zwei Drittel der Ausschussmitglieder dagegen entscheiden.

Normalerweise gilt diese Regel nur bei Online-Petitionen, die auf der Seite des Bundestags eingereicht werden - also nicht für Onlineplattformen wie "Open Petition". Das betreffende Anliegen muss zudem in die Zuständigkeit des Bundes fallen. Auch diese Bedingung ist im vorliegenden Fall nicht erfüllt, weil Schulpolitik Ländersache ist. Allerdings - das zeigt der Fall Gustl Mollath, für den einst eine Petition bei Open Petition gestartet wurde: Ist der öffentliche Druck groß genug, kann auch das eine Landesregierung zum Handeln zu bringen.

Unabhängig vom Ausgang in Baden-Württemberg sieht Frank G. Pohl die aktuellen Diskussionen um den Umgang mit Homosexualität positiv. "Veränderung in der Gesellschaft passiert nur, wenn darüber geredet wird."

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