Sexualkunde:"Heute ist man sensibler"

50 Jahre Sexualkunde an Schulen

Das erste Aufklärungsbuch für Schüler in Westdeutschland - herausgebracht vor 50 Jahren.

(Foto: dpa)

Als das erste Lehrbuch für Aufklärung erschien, waren viele entsetzt. 50 Jahre später gibt es wieder Kritik an der Sexualkunde - teils aufgrund falscher Vorstellungen, sagt Expertin Beate Proll.

Interview von Bernd Kramer

Der Sexualkunde-Atlas löst unmittelbar Entsetzen aus. Am 10. Juni 1969 bringt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung das erste Lehrbuch heraus, das Schüler in Westdeutschland aufklären soll. Acht Monate zuvor hatten die Kultusminister "Empfehlungen zur geschlechtlichen Erziehung in der Schule" veröffentlicht. Geht das nicht auch anders? Katholische Eltern monieren, Sex werde als so selbstverständlich präsentiert, dass es "fast Aufforderungscharakter" habe. Die Zeit kritisiert die "naturalistisch kaum überbietbare Darstellung", die Frankfurter Allgemeine Zeitung stört sich an Sätzen wie: "Der Schamberg ist ein behaartes Fettpolster oberhalb der Scheide".

50 Jahre später wird immer noch über den Sexualkundeunterricht gestritten. Expertin Beate Proll glaubt, das läge oft an falschen Vorstellungen. Beim Hamburger Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung ist sie für Gesundheitsförderung, Sexualerziehung und Gender zuständig.

SZ: Frau Proll, heute vor 50 Jahren erschien der Sexualkunde-Atlas. Damals war das Unterrichtswerk ein riesiger Aufreger. Haben Sie auch mit dem Buch gelernt?

Beate Proll: Als das Buch erschien, war ich neun Jahre alt. In der Schule ist es mir nicht begegnet. Aber wir hatten es zu Hause und ich kann mich daran erinnern, dass die Aufklärungsgespräche mit meiner Mutter sich an diesem Buch anlehnten. Da war ich vielleicht zehn Jahre alt; ich glaube, für sie war es eine gute Hilfe.

Die FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher, damals im hessischen Kultusministerium beschäftigt, meinte, ihrer Tochter würde sie das Buch nicht an die Hand geben. Vielen war die Sprache zu technisch, die Abbildungen fanden sie zu drastisch.

In dem Buch gab es Fotos einer Geburt! Auf einem der Bilder liegt der Mutterkuchen in der Hand der Hebamme. Das fand ich abstoßend, das weiß ich noch. Aber damals war man der Überzeugung: Es ist gut, wenn man die Dinge zeigt, wie sie sind.

Sie bilden Lehrer weiter für den Sexualkundeunterricht. Würden Sie Ihnen heute auch noch so ein Buch für die Schule empfehlen?

Es gibt Bücher, die ich für sehr viel geeigneter halte. Die Herangehensweise ist sehr textlastig medizinisch-naturwissenschaftlich, es gibt Zeichnungen der inneren und äußeren Geschlechtsorgane, es wird ausführlich erklärt, was bei der Monatsblutung passiert. Heute würde ich das Buch so nicht einsetzen.

privat

Beate Proll ist Berichterstatterin für die Kultusministerkonferenz für den Bereich Gesundheitsförderung und Prävention.

(Foto: privat)

Warum nicht?

Die Sexualerziehung hat sich in den 50 Jahren stark verändert, vor allem auch durch die Auseinandersetzung mit dem Thema sexualisierte Gewalt. Es geht auch heute nach wie vor darum, Kinder und Jugendliche gut über die biologischen Fakten zu informieren. Aber der Kommunikation und der Verständigung wird inzwischen in der sexuellen Bildung sehr viel mehr Raum gegeben.

Sie meinen, die Kinder sollen üben, über Sex zu reden?

Kinder sollen heute lernen, über den Körper und ihre Gefühle zu sprechen, am besten schon in der Kita und in der Grundschule. Es geht darum, die eigene Wahrnehmung zu stärken: Was gefällt mir, was ist komisch? Wo kippen Gefühle? Vielleicht empfinde ich es als angenehm, wenn mir jemand über das Haar streicht, aber es wird ungenehm, wenn er mit einer Bürste dadurch fegt. An der weiterführenden Schule geht es viel mehr als früher um Emotionen rund um das berühmte erste Mal: Wann ist der richtige Zeitpunkt? Wie nehme ich mich selbst wahr? Habe ich das Gefühl unter Druck zu stehen, weil meine Mitschülerinnen und Mitschüler angeblich alle schon Sex hatten? Stimmt es überhaupt, was die sagen?

Sind wir unverkrampfter geworden?

Unsicherheiten bleiben bei dem Thema, es ist kein nur sachlich zu bearbeitender Unterrichtsstoff. Auch als Lehrkraft macht man Sexualerziehung nicht einfach mal eben so wie andere Themen. Das merken wir auch in Fortbildungen immer wieder. Man braucht ein klares Verhältnis zu sich selbst: Weiß ich als Lehrkraft, welche Fragen mir unangenehm sind? Wie gehe ich damit um, wenn ein Schüler etwas Persönliches von mir wissen will? Ich muss ausstrahlen, dass man über dieses Thema reden kann.

In den vergangenen Jahren haben verunsicherte Eltern, aber vor allem auch rechte Gruppen immer wieder gegen den Sexualkundeunterricht mobil gemacht. Ihrer Meinung nach geht er zu weit, ist zu explizit, vernachlässigt angeblich traditionelle Familienbilder. Überrascht Sie das?

Es gibt zunehmend Eltern, die aus religiösen oder ideologischen Gründen wollen, dass bestimmte Themen in der Schule nicht angeschnitten werden. Die Auseinandersetzung ist für uns in der Form neu.

Manche Kritiker stört vor allem, dass der Aufklärungsunterricht so früh einsetzt.

Sie denken oft, den Kindern werden in der Grundschule Sexspielzeuge vorgestellt, das sind Zerrbilder. Die Schule soll in jedem Alter die Fragen aufgreifen, die die Kinder gerade beschäftigt. Und das finde ich richtig. Zumal ich den Eindruck gewinne, dass Eltern zunehmend verunsichert sind, ob und wie sie selbst Aufklärungsgespräche führen sollen. Wenn dann auch noch die Schule wegfallen würde, würden Kinder und Jugendliche sich die Antworten im Netz selbst suchen und dann vielleicht an Informationen geraten, die wirklich nicht für sie gedacht sind. Oder die einfach falsch sind.

Die Kritiker meinen auch, der Sexualkundeunterricht verletze die Schamgrenzen der Kinder.

Es gab tatsächlich eine Zeit, in der die Auffassung vorherrschte, dass Scham schlecht sei - ein Ausdruck davon, dass sich eine Person nicht frei entfalten kann. Vielleicht haben manche Eltern immer noch dieses Bild im Kopf, aber so läuft das längst nicht mehr. Inzwischen ist der Ansatz ein anderer: Scham ist nicht per se schlecht, es kommt auf die Umstände an. Ist sie eine Folge äußeren Drucks? Will ich über manche Dinge nicht reden, weil ich gelernt habe, dass alles Körperliche böse ist? Oder will ich mich nur nicht in einer bestimmten Form zeigen, um mich zu schützen? Scham ist nicht immer ein Zeichen von Verklemmtheit, die bearbeitet werden müsste. Ihre Schulkameraden haben sich die Kinder und Jugendlichen nicht ausgesucht, sie wollen nicht alles mit allen besprechen. Da ist man heute sensibler als vor einigen Jahren.

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