Sexualkunde:Als der Sex ins Klassenzimmer kam

Neue Sexualkunde-Leitlinien - Kritik nur von AfD

Der Sexualkundeunterricht hat sich in den letzten 50 Jahren stark verändert.

(Foto: Julian Stratenschulte/dpa)

Vor 50 Jahren formulierten die Kultusminister Empfehlungen für die "geschlechtliche Erziehung in der Schule". Seither hat sich das Fach erheblich gewandelt.

Von Matthias Kohlmaier

So verlockend sind die Angebote der Liebe, wie Süßigkeiten in der Auslage. Greif nur zu, bedien dich ... Noch während Tom Jones mit dieser Aufforderung in seinem Song "Help Yourself" die Hitparade in Deutschland dominierte, setzten westdeutsche Politiker das Thema Sexualität auf den Lehrplan von Millionen Schülern. Vor 50 Jahren, am 3. Oktober 1968, veröffentlichte die Kultusministerkonferenz (KMK) ihre "Empfehlungen zur geschlechtlichen Erziehung in der Schule".

Sexualkunde sollte die Kinder aber nicht auf dumme Gedanken bringen, sondern sie "zu verantwortlichem geschlechtlichem Verhalten" erziehen, so die KMK-Erklärung. Konservative Politiker und Kirchenvertreter fanden das wiederum wenig verantwortlich. Der Widerstand verschärfte sich, als die Bundesgesundheitsministerin Käte Strobel 1969 das erste westdeutsche Schulbuch zur Sexualaufklärung vorstellte. Auf 48 Seiten klärte der "Sexualkunde-Atlas" über Geschlechtsorgane, Befruchtung und Schwangerschaft auf. Während die Süddeutsche Zeitung das Büchlein damals für "eine akzeptable Lösung" hielt, kritisierten andere Kommentatoren die naturalistischen Darstellungen, und die Frankfurter Allgemeine Zeitung störte sich an einer "Sexualkunde in der Klempner-Sprache", etwa: "Der Schamberg ist ein behaartes Fettpolster oberhalb der Scheide."

Die Debatten, was und wie viel Kinder wann und in welcher Form über Sex erfahren sollten, landeten schließlich 1977 vor Gericht - und noch ein paar weitere Male in den Jahrzehnten danach. Die wichtigsten Ergebnisse: Schule muss sich nicht auf reine Aufklärung beschränken, sondern darf auch Sexualerziehung leisten. Und Eltern dürfen ihre Kinder nicht aus religiösen oder sonstigen Gründen vom Sexualkundeunterricht fernhalten.

Ob Lehrkräfte aufklären sollen oder nicht, diese Frage stellt längst niemand mehr. Über das Wie gibt es aber noch immer lebhafte Debatten. Auch weil die Lehrpläne als Reaktion auf die sich ändernden Verhältnisse über die Jahre immer liberaler geworden sind. Uwe Sielert, Sozialpädagogik-Professor an der Uni Kiel und Mitbegründer des Instituts für Sexualpädagogik, findet: "Die Politik und nicht zuletzt die Lehrkräfte haben erkannt, dass mediale Überforderung, die Abwehr sexueller Gewalt oder das Zurechtkommen mit pluralen Familienformen Themen sind, bei denen Kinder und Jugendliche dringend Unterstützung benötigen."

Aufklärung über den Akt als solchen brauchten die Jugendlichen von heute aber kaum noch, meint Sielert. Da müssten Lehrkräfte womöglich nur das ein oder andere zurechtrücken, und natürlich blieben Themen wie Verhütung oder die Prävention sexuell übertragbarer Krankheiten wichtiger Teil der sexuellen Bildung. Er sieht die Schule zudem in der Debatte um vielfältige Beziehungskonstellationen in der Pflicht, auch Geschlechterrollen müssten zwingend Thema sein. "Kinder sollten frühzeitig vorgelebt und erklärt bekommen, dass sie sein dürfen, wie sie möchten. Dazu gehört auch, dass der Grundschüler ein pinkes Hemd tragen darf, wenn ihm das gefällt, und seine Klassenkameradin Autos spannender finden darf als Puppen", sagt Sielert. Solange "schwul" nach wie vor ein Schimpfwort auf deutschen Pausenhöfen sei, müsse die Schule frühzeitig ihren Beitrag zur Antidiskriminierung leisten.

Solche Ansichten, wenngleich sie in den Richtlinien zur sexuellen Bildung der meisten Bundesländer so oder in ähnlicher Form fester Bestandteil sind, gefallen nicht jedem. Konservative und christlich geprägte Gruppen wie "Demo für alle" oder "Besorgte Eltern" agitieren seit Jahren gegen einen vermeintlichen Genderwahn an Schulen. Sie fürchten, dass das traditionelle Familienbild zurückgedrängt wird, und warnen vor einer "Frühsexualisierung" der Kinder.

Wie läuft sexuelle Aufklärung in der Praxis ab?

Diesen Vorbehalt bekommt auch der Forscher Uwe Sielert zu spüren. In einer Broschüre der "Besorgten Eltern" heißt es, Sielert fordere "pädophile Übergriffe der Eltern auf ihre Kinder". Auch andere Sexualwissenschaftler werden verurteilt, anhand von Zitaten, die aus dem Kontext gerissen sind. Sielert nimmt diesen "Quatsch" nicht widerspruchslos hin: "In der frühkindlichen Eltern-Kind-Interaktion, durch Kuscheln und Schmusen, lernen Kinder, dass Körperkontakt schön ist; sie fühlen sich angenommen und geliebt und werden dieses Gefühl in ihr Sexualleben einfließen lassen. Das hat rein gar nichts mit Pädophilie zu tun."

Auch wenn der Vorwurf dem renommierten Wissenschaftler nicht ernstlich schaden kann, ist der Einfluss konservativer Gruppen doch nicht zu unterschätzen. Ein Beispiel aus Bayern: Dort hat das Kultusministerium im Dezember 2016 neue Richtlinien für die Familien- und Sexualerziehung an Schulen veröffentlicht. Sie waren zuvor in einem jahrelangen Prozess erarbeitet worden, die beiden großen Kirchen, Eltern- und Lehrerverbände und auch das von SPD und Grünen unterstützte Bündnis "Vielfalt statt Einfalt" sowie "Demo für alle" konnten Anregungen und Vorschläge einbringen. Das Ergebnis zeigt, dass schon ein kleines Wort einen großen Unterschied machen kann.

In einer ursprünglichen Fassung hieß es, Schülerinnen und Schüler sollten dazu angeleitet werden, "Toleranz und Akzeptanz gegenüber Menschen, ungeachtet ihrer sexuellen Identität" zu zeigen. Kurzfristig wurde jedoch der Begriff "Akzeptanz" durch "Respekt" ersetzt. In der Praxis bedeute dies, findet "Vielfalt statt Einfalt", dass Lehrkräfte homo- oder transsexuellen Jugendlichen "künftig sagen müssen, dass sie diese zwar respektieren, aber nicht akzeptieren". Nachdem zusätzlich in die finale Fassung der Richtlinien der Satz "Basis dieser grundlegenden Rechtsnormen ist ein Menschenbild, das maßgeblich durch das Christentum und die Aufklärung geprägt ist" eingearbeitet worden war, feierte "Demo für alle" das als großen "Erfolg unserer gemeinsamen Anstrengungen zum Schutz der Kinder vor Indoktrination und Sexualisierung".

Käthe Strobel mit dem sexualkunde-Atlas, 1969

Als Bundesgesundheitsministerin Käte Strobel (SPD) 1969 den "Sexualkunde-Atlas" für Schulen vorstellt, stößt sie damit bei konservativen Politikern und Kirchenvertretern auf Widerstand.

(Foto: AP)

Bleibt die Frage, wie es in der Praxis läuft mit den bayerischen Richtlinien. Sehr gut, findet Michael Spangler, seit mehr als 20 Jahren Biologielehrer an bayerischen Gymnasien: "Da wurde ein mutiger Weg gewählt, und wir können im Unterricht den gesellschaftlichen Diskurs ohne Angst vor sehr konservativen bis hin zu reaktionären Kreisen aktiv mitgehen." Er meint damit die verschiedenen sexuellen Orientierungen von Menschen, die er in der Klasse laut Lehrplan völlig vorurteilsfrei ansprechen darf und soll.

Ohnehin unterrichtet Spangler gerne Sexualkunde, weil die Achtklässler mit großem Interesse und Eifer dabei sind - wenngleich der Lehrer sie zu Beginn oft etwas bremsen muss. "Für die Jugendlichen ist schnell nur noch der Geschlechtsakt Thema und alles, was sie so an sportlichen Vorstellungen dazu haben." Um das zu vermeiden, steigt Spangler in die sexuelle Bildung gern mit nach Geschlechtern getrennten Gruppen ein. Die Jungs sollen dann erst mal über die Mädchen nachdenken und umgekehrt: Warum verändern die sich gerade, was interessiert uns besonders an denen - solche Fragen. "Gleich mit Penis und Vagina einzusteigen, das fänden die Jugendlichen mit Sicherheit unangenehm", sagt der Biolehrer.

Auch an Grundschulen scheint es keine Probleme zu geben. Silke Oswald hat zwei Münchner Grundschulen mit heterogener, muslimisch geprägter Schülerschaft geleitet und sagt: "Die Eltern erkennen, dass wir als Schule beim Thema sexuelle Bildung mit ihnen zusammenarbeiten wollen." Die verpflichtenden Elternabende zum Thema seien gut besucht, dort erkläre man, welche Themenbereiche anhand welcher Materialen wie detailliert mit den Kindern bearbeitet würden. Auch die Schüler hätten keine Berührungsängste mit dem Thema Sexualität. "Egal, was die Kinder für einen familiären Hintergrund haben: Die Wissbegierde ist bei allen sehr groß", sagt die Schulleiterin. So erlernen sie bis zum Ende der Grundschule, wie Mann und Frau sich anatomisch unterscheiden, was bei der Körperhygiene wichtig ist und wie sich menschliches Leben entwickelt, von der Zeugung bis zur Geburt. Auch Tom Jones hätte das sicher in Ordnung gefunden.

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