Schule:Warum Sexualerziehung an Grundschulen wichtig ist

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Schüler werden durch das Internet früh mit Sexualität konfrontiert. Das stellt Lehrkräfte vor eine pädagogische Herausforderung. (Foto: Armin Weigel/dpa)

Wenn Grundschüler die Welt erkunden, zählt dazu auch die Sexualität. Derbe Schimpfwörter können das gemeinsame Lernen aber stören. Schulen sollten reagieren.

Von Christiane Kolb

Tom, Aydan und Finn aus der Dritten werfen der Schulsekretärin ein "F* dich" an den Kopf. Der achtjährige Elias drückt einer Mitschülerin eine Puppe zwischen die Beine - dahin, wo die Kinder rauskommen. Lisa wird beim Basteln von Mia und Meryem geärgert: "I, der Deckel von deinem Kleber sieht aus wie ein Kondom!" Ebenfalls in einer dritten Klasse kursiert ein Zettel, mit dem Jungen sich gegenseitig zu Mutproben auffordern: "Medchen in die Brust kneifen" und "sexuel belestigen". Eine Mädchen-Clique jagt immer wieder mal einzelne Mitschüler bis ins Jungensklo. Und Rocco aus der Zweiten prahlt, er habe auf dem Smartpone Pornos geguckt: "Wenn man den Penis ins Poloch steckt, dann kommen keine Kinder."

Wirklich, verhalten sich Grundschüler so? Ja, die Beispiele kommen aus drei Hamburger Grundschulen, sie wurden in Gesprächen mit Lehrern und Eltern gesammelt. Zum Schutz der Kinder sind ihre Namen geändert, auch die Schulen und Lehrer bleiben anonym. Keine Schule liegt in einem Brennpunkt, die Eltern, mit und ohne Migrationshintergrund, sind engagiert, Elternabende gut besucht. Normale Schulen also. Sind auch die sexuell aufgeladenen Sprüche und Handlungen normal?

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"Dies sind zwar Beispiele für grenzverletzendes Verhalten", sagt die Sexualpädagogin Annika Arens, "doch es ist normal, dass Kinder sich auch in Bezug auf Sexualität in der Welt orientieren wollen." Spätestens ab der dritten, vierten Klasse seien sie mit ihrem Körper, mit Fragen zu Schwangerschaft, Geburt und Geschlechterrollen beschäftigt, erklärt die Expertin vom Beratungszentrum Pro Familia Hamburg. Das Necken und Ärgern, auch mit sexualisierter Sprache, gehöre zur psychosexuellen Entwicklung. "Manchmal ärgern Jungs Mädchen und andersherum, weil sie sich voneinander abgrenzen wollen und sich zugleich zueinander hingezogen fühlen."

Die Dynamik ist von Kind zu Kind, von Klasse zu Klasse unterschiedlich. Während sich die eine Klasse beim Experimentieren mit Sexualität und Sprache geradezu hochschaukeln kann, scheint die andere Klasse ganz unberührt davon zu sein. Zu den Beispielen aus den Schulen sagt Arens: "Es kommt darauf an, ob ein Kind mit seinem Verhalten absichtlich verletzen will. Ist das der Fall, braucht es ein ' Stopp' und Konsequenzen, damit es sein Verhalten ändert." Anders verhalte es sich, wenn Kinder versuchen, Aufmerksamkeit zu erregen, indem sie über Sexualität und Sprache zeigen wollen, wie erwachsen sie schon sind. "Oft wissen sie aber nicht um die Bedeutung der Worte, dann ist eine Erklärung von Erwachsenen nötig", so Arens.

Mit dem F-Wort oder Begriffen wie "Porno", "Penis" und "Scheide" können Kinder Mitschüler heftig treffen und Erwachsene in Aufruhr oder Verlegenheit bringen. Wie gehen Schulen damit um? Welche Grenzen ziehen sie Kindern, die sich und andere austesten? Das Problem: Eine eindeutige Antwort auf die Frage gibt es nicht, denn zu viele Schulen haben hierfür kein Konzept. Im Fall von "F* dich" gegenüber der Schulsekretärin mussten die Jungen sofort von ihren Eltern abgeholt werden, Elterngespräche und Klassenrat folgten - Zeichen nach innen wie außen, dass hier die Grenze überschritten wurde. Doch die Reaktion kann auch anders sein, zu streng, zu lasch, zu einseitig - oder nicht vorhanden. Sanktionen allein reichten jedenfalls nie, betont Arens. Um Kinder für den respektvollen Umgang zu sensibilisieren, müssten die Situationen besprochen und eingeordnet werden. Im Schulalltag stets situationsgerecht zu reagieren, fällt Lehrern aber oft schwer.

Im Lehramtsstudium spielt sexuelle Bildung kaum eine Rolle

Anja Henningsen, Professorin für Sexualpädagogik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, macht dafür auch die Ausbildung verantwortlich. "An vielen Hochschulen ist Sexualerziehung allenfalls ein Randthema." Henningsens Lehrveranstaltungen für angehende Lehrer und Pädagogen sind jedoch gefragt. "Ein Signal, dass sie es notwendig finden, sich damit auseinanderzusetzen."

Bei Lehrern im Dienst ist das nicht immer so. In einer der drei Hamburger Grundschulen erklärte ein Lehrer den Eltern, das Thema sei ja nicht verpflichtend. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht bereits 1977 in einem Grundsatzurteil bestätigt, dass die Sexualerziehung zum Bildungsauftrag des Staates gehört.

Schon vor 50 Jahren veröffentlichte die Kultusministerkonferenz Empfehlungen für die Sexualerziehung, rund 30 Jahre später hatte dann auch das letzte Bundesland den pädagogischen Auftrag im Bildungsplan verankert. In Hamburg sieht er vor, dass Schüler nach der zweiten Klasse Beispiele für angenehme und unangenehme Berührungen benennen sowie miteinander lernen und spielen können, ohne "sexualisierte Schimpfwörter" zu verwenden. "Darin zeigt sich, dass in der Sexualerziehung nicht nur medizinisch ausgerichtete Themen aufgegriffen werden", erklärt Beate Proll, zuständige Abteilungsleiterin im Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg. Es sei wichtig, dass Lehrer Themen rund um Sexualität professionell einschätzen und adäquat auf Schüler reagieren könnten, so Proll.

Was genau an Schulen vermittelt wird, bleibt aber unklar. "Wir wissen nicht, in welcher Intensität und Qualität Unterricht stattfindet", sagt Anja Henningsen; bislang fehle es an Forschungsgeldern, um dieser Frage auf den Grund zu gehen. Eine kleine Studie zur Lage in Grundschulen konnte die Professorin aber doch durchführen. Ihr Fazit: "Sexualerziehung hängt ab von dem Engagement, der Kompetenz und den Fähigkeiten der einzelnen Lehrkraft." Diese Beobachtung machen auch Hamburger Eltern: Mal würden Klassenlehrer Fragen der Sexualität aufgreifen, mal tolle Projekte dazu durchführen, öfter spiele das Thema im Unterricht keinerlei Rolle. Ein Manko - dabei gibt es in Hamburg in jeder Schule einen geschulten Beratungslehrer, und bei Bedarf helfen Kinderschutzfachkräfte, bietet das Landesinstitut Lehrern Materialien, Fortbildungen und Beratungen an.

Ohne die Mitarbeit der Eltern stoßen Schulen jedoch an Grenzen. Die Bildungspläne der Länder konstatieren deshalb, dass Sexualerziehung eine Aufgabe von Elternhaus und Schule sei. Bei der "vertrauensvollen Zusammenarbeit", wie es in Hamburg heißt, müssen die Lehrer Regeln einhalten, zum Beispiel die Eltern vorab informieren. In einer der Hamburger Grundschulen hat die Klassenlehrerin kurz vor Weihnachten einen Elternbrief verschickt. Darin steht, die Kinder seien gerade stark mit dem Thema Sexualität beschäftigt, und sie erklärt, wie die Schule darauf reagiert: Fragen und Anliegen sollen in der Klasse Raum bekommen, auch mithilfe altersgerechter Aufklärungsbücher. Und die Schüler könnten jetzt in einem Zettelkasten anonym ihre Fragen hinterlassen, die dann gebündelt besprochen werden. Auch einen Elternabend soll es geben. "Eltern haben ein Recht auf Einsicht in Materialien und Methoden, können jedoch nicht darüber entscheiden oder Inhalte abwählen", erklärt Beate Proll vom Landesinstitut.

Dennoch schalten sich Eltern zuweilen leidenschaftlich ein. Ein Grundschullehrer berichtet von ausufernden Diskussionen auf Elternabenden. Sexualerziehung kann anstrengend sein, persönlich werden. Es allen Eltern recht zu machen, erscheint fast unmöglich. Fällt auf dem Elternabend die Frage, woher die Kinder ihr Verhalten haben, schwingt meist die Antwort mit: nicht von uns. Die Hochschullehrerin Anja Henningsen sagt indes: "Häufig haben Kinder die Haltung der Eltern früh verinnerlicht, etwa den schamhaften Umgang mit dem eigenen Körper oder mit Nacktheit. Oder sie hören Sätze wie: Das ist noch nichts für dich." Damit aber lassen Eltern Kinder allein - obwohl diese immer eher durch das Internet mit heftigen Bildern konfrontiert werden.

Wie sehr sie den Austausch schätzen, weiß Annette Möller: "Wenn klar ist, dass bei uns das Thema Sexualität in Klasse drei oder vier im Unterricht stattfindet, sind immer alle Kinder aufgeregt - und froh, denn für viele ist es eine gute Möglichkeit, im geschützten Raum ihre Fragen besprechen zu können", sagt die stellvertretende Leiterin der Hamburger Grundschule Ratsmühlendamm, die nicht zu den zuvor erwähnten Grundschulen zählt.

Annika Arens von Pro Familia erlebt, dass Eltern oft viele Fragen zum Umgang mit Sexualität in der Erziehung haben. Die einen befürworten Aufklärung, auch über die Vielfalt von Sexualität, andere befürchten ein "Zu früh" oder wollen das Thema nur im Elternhaus behandelt wissen. Aber gerade da, wo Eltern nicht aufklären, ob aus weltanschaulichen Gründen oder Überforderung, ist die Schule gefordert. Weil das Wissen um Körper und Gefühle zufriedenstellende Beziehungen und physisches Wohlbefinden ermöglicht. Und weil es später vor sexuell übertragbaren Krankheiten und ungewollter Elternschaft schützt.

Ein zentrales Motiv ist auch der Schutz vor Missbrauch. Aufgeklärte Kinder wissen, was andere Menschen nicht mit ihnen tun dürfen, und können sich leichter Hilfe holen, weil sie erfahren haben, dass das Thema nicht totgeschwiegen wird. "Die Basis dafür sind kundige Lehrkräfte und ein sexualpädagogisches Konzept in jeder Schule", sagt Anja Henningsen. Das mache auch die Zusammenarbeit mit Eltern einfacher: "Die Schule kann klar auf ihr Konzept verweisen und sagen: So arbeiten wir hier. Punkt."

© SZ vom 07.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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