Süddeutsche Zeitung

Lernen trotz Schulschließung:Weniger ist mehr

Lehrer überfordern ihre Schüler, wenn sie im Fernunterricht da weitermachen, wo sie vor der Schulschließung stehen geblieben sind. Aber man kann die Zeit sinnvoll nutzen - zum Wiederholen.

Ein Gastbeitrag von Klaus Zierer

Die Schulen sind in einer unbekannten Situation: Das Schuljahr wird für mehrere Wochen unterbrochen. So ausweglos die Lage im ersten Moment schien, so innovativ zeigen sich die Lösungsansätze heute. Beispielsweise versprechen Technikkonzerne digitale Lösungen, Fernsehsender haben ihren Bildungsauftrag wiederentdeckt, viele Lehrpersonen nutzen Digitalisierung und versorgen ihre Schüler mit Lernaufgaben.

All das ist grundsätzlich erfreulich und gut gemeint. Aus pädagogischer Sicht ist die Lage jedoch ernst. Zwar ist kein Bildungsnotstand zu befürchten, aber viele Maßnahmen schaffen Schwierigkeiten.

Eine Gefahr für den Lernprozess ist die Tendenz zu falschen Aufgaben: Nicht selten ist zu beobachten, dass Lehrpersonen ihren Lernenden Aufgaben digital stellen, die in den nächsten Wochen sowieso durchgenommen worden wären. Da Unterricht ausfällt, sollen die Lernenden sich selbst die Inhalte aneignen. Ein Video auf Youtube und ein Text bei Wikipedia, schon ist das neue Wissen zu Hause angekommen. So aber gelingt Fernunterricht nicht. Denn erstens ist Lernen immer ein interpersonaler Prozess. Um erfolgreich zu lernen, braucht es den Kontakt zu Mitmenschen. Zweitens eignen sich Lernende nur dann Inhalte selbst an, wenn es einfache Inhalte sind und das Interesse daran entsprechend hoch ist. Schulische Stoffe erfüllen selten beide Voraussetzungen. Einzig die Wiederholung und Vertiefung von bereits Gelerntem ist in diesem Modus sinnvoll.

Falsche Aufgaben gepaart mit einem überfüllten Pensum bringen Eltern an ihre Grenzen

Auch ein überfülltes Pensum droht vielen Schülerinnen und Schülern: Digitale Plattformen ermöglichen es jeder Lehrperson, Lernenden Aufgaben zu übermitteln. Da jedes Fach seine Berechtigung hat, ist ein Zuviel an Aufgaben zu beobachten. Der Gedanke, dass Lernende ebenso wie in der Schule sechs Stunden zu Hause arbeiten, ist absurd. Auch hier fehlen die Peers ebenso wie die schulischen Regeln und Rituale, die grundlegend für Unterricht sind. So einfach lässt sich das nicht nach Hause transferieren. Auf ein vernünftiges Maß bei der Aufgabenstellung ist zu achten. Dafür müssten unter den Lehrkräften an den Schulen intensive Teamphasen stattfinden.

Falsche Aufgaben gepaart mit einem überfüllten Pensum bringen Eltern an ihre Grenzen. Weder sind sie in der Regel fachlich, pädagogisch und didaktisch ausgebildet, noch haben sie die Autorität, um ein Ersatz für die Schule zu sein. So wichtig Elternarbeit ist, sie kann Schule beim Lernen nur unterstützen. Die derzeit implizit geforderte Rolle läuft daher Gefahr, Eltern zu überfordern und damit auch das komplette Familiensystem. Zweifellos wird das Kinder aus einem bildungsfernen Milieu härter treffen.

Nicht zuletzt entsteht in vielen Familien derzeit ein Überfluss an Digitalisierung: Zwar wird immer wieder postuliert, dass Schulen nun endlich die digitale Transformation meistern können. Doch Lernende verbringen durchschnittlich bereits an die sechs Stunden täglich mit digitalen Medien. Die Schulschließungen haben zur Folge, dass diese Zeit um mehrere Stunden anwächst. Abgesehen davon, dass die anfänglich zu verzeichnende digitale Aktivität der Lernenden nicht Ausdruck einer neuen Lerneuphorie ist, sondern lediglich den Reiz des Neuen veranschaulicht und daher schnell sinken wird, für den Körper ist das ein Super-GAU: zehn Stunden und mehr täglich über mehrere Wochen vor den Schirmen. Körperlichen Ausgleich ist jetzt wichtiger denn je.

Für den Tag, an dem Schulen wieder öffnen, stellen diese Tendenzen eine große Herausforderung dar. Die dann noch zur Verfügung stehende Zeit wird entscheidend sein, um das Wesentliche durchzunehmen und zu sichern. Damit das gelingt, muss nicht nur ein wirksamer Unterricht stattfinden, sondern auch die Lernenden müssen auf diesen Unterricht vorbereitet sein. Nicht mehr und nicht weniger sollte das Ziel während der Schulschließungen sein: im familiären Miteinander die nächsten Wochen zu leben und den schulischen Anschluss zu halten.

Klaus Zierer ist Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg

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Quelle:
SZ vom 28.03.2020/haa/berk
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