Schulpolitik:"Beim Abitur werden Grundrechte verletzt"

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Gleich geht's los: Baden-württembergische Gymnasiastinnen und Gymnasiasten lesen sich 2018 ihre Abituraufgaben im Fach Deutsch durch. (Foto: Felix Kästle/dpa)

Der ehemalige Kultusminister Mathias Brodkorb und die Pädagogikprofessorin Katja Koch fordern ein Ende des Bildungsföderalismus. Aber wie meinen sie das?

Interview von Bernd Kramer

Wie gerecht ist das Abitur? Ist ein Zeugnis aus Niedersachsen mit dem aus Sachsen vergleichbar? Mathias Brodkorb war bis 2016 für die SPD Kultusminister in Mecklenburg-Vorpommern und kritisiert den deutschen Bildungsföderalismus nun scharf: Gemeinsam mit der Pädagogikprofessorin Katja Koch werfen sie den 16 Bildungsministern einen "Abiturbetrug" vor - so lautet der Titel ihrer unlängst erschienenen Streitschrift (zu Klampen Verlag, 152 Seiten). Für die Länder sei die Reifeprüfung nicht zu stemmen, sie gehöre endlich in Bundeshand. Das Abi sei aber nicht nur höchst uneinheitlich, es verkomme auch zu einem Allerweltsabschluss, behaupten die Autoren. Die Abiturientenquote müsse daher radikal gesenkt werden. Mit diesen Forderungen stellt sich Brodkorb nicht nur gegen seine einstigen Amtskollegen in den Kultusministerien der Republik - sondern auch gegen die bildungspolitische Linie seiner Partei seit den 60er-Jahren.

SZ: Frau Koch, Herr Brodkorb, in vielen Ländern beginnen bald die Abiturprüfungen, und schon vorher gab es Unruhe, ob die Bedingungen gleich sind. Schleswig-Holstein wollte die Klausuren wegen der Corona-Krise absagen und wurde von den anderen Ländern zurückgepfiffen.

Mathias Brodkorb: Typisch Kultusministerkonferenz. Man kann sich nicht einmal streitfrei auf die Termine für die Sommerferien einigen. Warum sollte es beim Abitur anders sein? Das System ist dysfunktional.

Eine Linie gibt es doch: Alle schreiben. Die Vergleichbarkeit ist noch mal gerettet.

Katja Koch: Dass überall Prüfungen geschrieben werden, ist nun wirklich das Mindeste. Darüber sollen wir uns freuen? Genauso könnte man sich auf die Schultern klopfen, weil überall in Deutschland Schüler vor dem Abschluss mal zur Schule gegangen sein müssen. Bravo, endlich gleiche Bedingungen! Das Abitur ist nur in homöopathischen Maßen deutschlandweit gleichwertig - höchstrichterlich bestätigt. Durch die Corona-Verwerfungen wird die homöopathische Gleichwertigkeit nur noch weiter verdünnt.

Es gibt inzwischen doch so etwas wie die Lightvariante eines Zentralabis: einen Abi-Aufgabenpool aller Länder, der gleiche Anforderungen sicherstellen soll.

Brodkorb: Ach, diese Legende... Katja, leg mal los.

Koch: Der Aufgabenpool gilt für die Abschlussprüfungen, die nur ein Drittel der Gesamtnote ausmachen. Zwei Drittel der Durchschnittsnote ergeben sich aus den Zensuren der letzten beiden Schuljahre. Da gibt es weder einheitliche Prüfungsbedingungen noch einheitliche Benotungskriterien noch einheitliche Stundenpläne. Hinzu kommt: Die Poolaufgaben gelten nur für vier von etwa 40 Prüfungsfächern. Selbst wenn in diesen Fächern alle dieselben Klausuren schrieben, was natürlich nicht der Fall ist, wären nur zehn bis zwanzig Prozent der Endnote davon betroffen. Die Noten wären weiterhin nicht gleichwertig. Ausgerechnet im Corona-Jahr ist der Aufgabenpool außerdem nicht mehr Pflicht. Das spricht doch Bände!

Brodkorb: Und es wird ja noch wilder: Diese paar Prozente werden weiter verdünnt, weil jedes Land selbst entscheiden kann, ob und wie viele Aufgaben es aus dem Pool für seine Abiturienten entnimmt. Es darf die Aufgaben sogar noch auf Jahre hin verändern. Man kann der Kultusministerkonferenz eigentlich nur gratulieren, dass ihr Täuschungsmanöver so gut geglückt ist, dass jetzt alle denken, wir hätten so etwas wie ein Zentralabitur.

Mathias Brodkorb ist SPD-Mitglied und war von 2011 bis 2016 Bildungs- und bis 2019 Finanzminister in Mecklenburg-Vorpommern. Katja Koch ist Professorin für Sonderpädagogische Entwicklungsförderung an der Universität Rostock. Kennen gelernt haben sie sich während der Inklusionsdebatte im Land. (Foto: Rainer Jensen/dpa, privat)

Es ist ein Schritt in die Richtung.

Koch: Oder eine Nebelbombe, die ein echtes Zentralabitur verhindert. Wenn man überhaupt hoffen darf, dass es in die Richtung weitergeht. Die Länder dokumentieren ja sehr genau, wie sie mit dem Aufgabenpool tricksen, halten das aber unter Verschluss. Ist das ein Grund für Vertrauen?

Brodkorb: Es geht hier nicht um eine Lappalie. Die Abiturnote entscheidet darüber, ob ein Schüler sein Wunschstudium studieren kann und wo. Wenn die Bedingungen bundesweit nicht gleichwertig sind, dann ist das Ding nicht gerecht. Daran ändert auch der Aufgabenpool nichts. Beim Abitur werden Grundrechte verletzt, Punkt!

Sie waren auch Kultusminister und hätten etwas tun können.

Brodkorb: Aber nur dann, wenn alle anderen 15 Kultusminister mitziehen. Es herrscht das Einstimmigkeitsprinzip. Daran bin ich in der Tat verzweifelt. Und aus dieser Verzweiflung heraus habe ich mit Frau Koch das Buch geschrieben.

Sie fordern, dass der Bund für Bildung zuständig sein soll und die Länder entmachtet werden. Wie haben Ihre Amtskollegen aus den anderen Bundesländern damals reagiert, als Sie als Kultusminister ihnen die Selbstabschaffung vorschlugen?

Brodkorb: Es ging damals eher um den erfolglosen Versuch, das Abitur zu vereinheitlichen. Auf das Ergebnis bin ich rückblickend nicht stolz. Bei einigen Themen wurde ich wohl als Störenfried wahrgenommen, als Gallier unter den Römern. Und es ist klar, warum es in diesen Runden nicht vorangeht: In Hamburg oder Berlin machen mehr als die Hälfte der jungen Menschen das Abitur, in Bayern kaum mehr als 30 Prozent. Die Quoten und auch die Leistungen der Schüler liegen so himmelweit auseinander - würde man sich auf etwas Gleichwertiges einigen, hätte das massive Konsequenzen. Man täuscht daher ein Zentralabitur vor, um in Wahrheit so wenig wie möglich vereinheitlichen zu müssen. Das ist ein staatlich organisierter Fake.

Wenn es nach Ihnen geht, sollen weniger Menschen Abitur machen, der Anteil soll radikal sinken. Aber selbst in Mecklenburg-Vorpommern ist die Abiturientenquote unter dem Schulminister Brodkorb gestiegen, von 32,7 auf 36,4 Prozent.

Brodkorb: Richtig. Aber ein gutes Gefühl hatte ich dabei nicht.

Warum haben Sie nicht mehr Schülern das Abitur verwehrt, wenn es Sie so stört?

Brodkorb: Die von mir ergriffenen Maßnahmen können sich logischerweise erst nach einigen Jahren auswirken. Für die damaligen Quoten war es dafür zu spät. Aber selbst wenn ich hätte in die Vergangenheit reisen können, wären unsere Schüler dann massiv benachteiligt worden gegenüber Schülern in Ländern mit niedrigeren Hürden. Aus dem Dilemma kommt kein Kultusminister der Republik heraus, nicht einmal Chuck Norris könnte das. Deshalb muss man es ja zentral auf Bundesebene regeln.

Je mehr Abiturienten, desto niedriger das Niveau - ist das nicht etwas simpel?

Koch: Das Leistungsvermögen ist nun einmal ungleich verteilt. In der Bildungsforschung ist das unstrittig.

Als Beleg zitieren Sie in Ihrem Buch einen Bundesländervergleich aus dem Jahr 2012 über die Mathematikleistungen in der 9. Klasse. Darin heißt es: "Mit steigender Gymnasialquote gehen niedrigere durchschnittliche Kompetenzen einher."

Koch: Das ist ziemlich logisch, dafür braucht es diese Studie eigentlich nicht.

Vielleicht doch, wenn man in der Studie ein wenig weiter liest: Demnach schaffen es viele Länder, "diese Koppelung aufzulösen, indem sie es trotz einer relativ hohen gymnasialen Beteiligungsquote von jeweils über 40 Prozent ihren Gymnasiastinnen und Gymnasiasten ermöglichen, überdurchschnittlich hohe Kompetenzen zu entwickeln."

Brodkorb: Das gilt nicht für viele, sondern nur für vier Länder von 16. Aber natürlich spielen auch andere Faktoren eine Rolle, die Qualifikation der Lehrer zum Beispiel.

Auch Forscherinnen und Forscher der OECD zeigen in ihren internationalen Vergleichen wie der Pisa-Studie, dass beides geht: Man kann viele Schüler zu hohen Abschlüssen führen und ihnen gleichzeitig viel beibringen.

Brodkorb: Aber in der Mehrheit der Bundesländer gelingt dies nicht. Es gibt keinen systematischen und damit gerechten Zusammenhang zwischen Leistung, Note und Abiturquote. Daran ändern auch die OECD-Studien nichts.

Aber sie zeigen zumindest, dass Schülerleistungen keinen Naturgesetzen folgen. Warum wollen Sie die Abiturientenquote unbedingt auf 20 Prozent drücken? Warum nehmen Sie diese Ergebnisse nicht zum Anlass für ein ambitionierteres Ziel: möglichst viele und möglichst gute Abiturienten?

Koch: Die 20 Prozent sind eine Prognose, die sich selbst auf wissenschaftliche Befunde stützt, und kein Ziel. Unser Ziel ist ein Abitur, das den Ansprüchen eines Hochschulstudiums gerecht wird. Optimisten glauben, wir könnten aus nahezu allen Abiturienten machen. Warum testen wir nicht genau dies mit einem anspruchsvollen und gerechten Zentralabitur? Wir würden uns sogar freuen, wenn wir uns irrten.

© SZ vom 14.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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