Süddeutsche Zeitung

Schulkritischer Film "Alphabet":Lernfabriken überall

Erschöpfte Schüler, leere Blicke: Nach der Agrarindustrie und der Finanzbranche nimmt sich Regisseur Erwin Wagenhofer die Bildung vor. Ist die Institution Schule an sich verwerflich?

Von Marlene Weiß

Eine Reihe gebeugter Rücken in einheitlichen Overalls, erschöpfte Jugendliche, leere Blicke: In seinem Dokumentarfilm "Alphabet" (hier der Trailer des Films), nach "We Feed the World" und "Let's make Money" der letzte Teil einer losen Trilogie, nimmt sich der Österreicher Erwin Wagenhofer nach der Agrarindustrie und der Finanzbranche die Bildung vor (Kinostart: 31. Oktober).

Der Film beginnt in China, das zwar gute Resultate in Pisa-Studien, aber auch eine riesige Nachhilfeindustrie hervorbringt und Kinder, die am Drill verzweifeln. Die Parole sei, dass Kinder nicht schon an der Startlinie verlieren dürften - dafür verlieren sie im Ziel, sagt der chinesische Pädagoge Yang Dongping. Später werden bizarre Bilder der geklonten Elite bei einem Wettbewerb des Beratungsunternehmens McKinsey gezeigt, stilecht mit Gel im Haar, Karrierebrille auf der Nase und lockeren Leistungssprüchen auf den Lippen.

Leider beschränkt sich die Bestandsaufnahme darauf; als sei die Institution Schule an sich verwerflich. Er habe nicht Bildungssysteme vergleichen oder gar bewerten wollen, schreibt Wagenhofer im Begleittext, sondern von einem nicht mehr tauglichen Ist-Zustand ausgehend die Menschen auf eine Reise einladen wollen. Engagierte Lehrer werden erbaut sein, so als untauglich abgetan zu werden.

Das Kind als Idealwesen

Dafür darf Gerald Hüther sich als Hirnforscher in Szene setzen, der Wissenschaft und Pädagogik vereint. Macht nichts, dass Hüther zwar früher in der Neurochemie geforscht hat, aber seit Langem kaum mehr wissenschaftlich publiziert. Klingt ja eh super, was er sagt: Alle Kinder sind hochbegabt, der Mensch kann sich nur selber bilden, wenn er es will; solche Sachen.

Als Paradebeispiel für einen neuen, besseren Bildungsweg wird André Stern präsentiert, der nie zur Schule gegangen ist.

Das Kind als Idealwesen, das sich am besten frei aller Zwänge entfaltet: Das hat schon Jean-Jacques Rousseau propagiert. Und schon bei ihm selbst, der bekanntlich fünf Kinder ins Waisenhaus abschob, gab es Komplikationen in der Praxis. Mag ja sein, dass Kinder beim Spielen am besten lernen; aber selten erschließen sie sich dabei die Differenzialrechnung oder die mesopotamische Kultur. Trotzdem kann solches Wissen ein Leben bereichern.

Auch Schule kann - manchmal - begeistern, Kinder in ihren Eigenheiten akzeptieren, Menschen statt Prüfungsmaschinen erziehen, so wie es der Film scheinbar revolutionär fordert. In "Alphabet" erzählt der spanische Lehrer und Schauspieler Pablo Pineda Ferrer, der trotz Down-Syndrom einen Hochschulabschluss geschafft hat, charmant vom Widerstand dagegen, sich "hinten anzustellen"; und von denen, die ihm auf seinem Weg geholfen haben.

Er ging auf eine Standardschule.

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Quelle:
SZ vom 21.10.2013
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