Süddeutsche Zeitung

Schulkritik von Remo H. Largo:Ende der Treibjagd auf Kinder

Jeder kann seine Schule frei wählen, Noten und Prüfungen sind verschwunden. So stellt sich der Schweizer Kinderforscher Remo H. Largo seine ideale Bildungswelt vor. Klingt toll - doch entscheidende Fragen lässt der Autor in seinem neuen Buch unbeantwortet.

Von Roland Preuß

Aufrufe zum Umsturz begleiten die Pädagogik seit Jahrhunderten. Johann Heinrich Pestalozzi arbeitete sich einst an Missständen ab, ebenso Wilhelm von Humboldt oder in jüngster Zeit Richard David Precht mit seinem Bestseller zum angeblichen "Verrat des Bildungssystems" an den Kindern. Der Schweizer Forscher Remo H. Largo hat nun seinen Aufruf zum Kurswechsel vorgelegt. Es ist ihm ein streitbares, warmherziges Buch geglückt.

Largo, der vielen Eltern durch seine Erfolgsbücher "Babyjahre", "Schülerjahre" und "Jugendjahre" bekannt ist, politisiert darin seine jahrzehntelange Erfahrung als Kinderarzt, Forscher an der Zürcher Uni-Kinderklinik und nicht zuletzt Vater von drei Töchtern. Auf gerade mal etwas mehr als 100 Seiten fragt der 70-Jährige nach den Ursachen für Lernerfolg. Wer bestimmt ihn: Kind, Schule, Gesellschaft? Aus den Antworten destilliert er seine Forderungen an Staat und Gesellschaft. Die spannende Frage aber ist: Wie praxistauglich sind sie?

Man kann einem Kind nichts beibringen, wenn es in seiner Entwicklung noch nicht reif ist dafür. Dies ist eine zentrale These aus Largos Büchern. Doch wie bietet man wann den richtigen Lernstoff? Und welche Rolle spielen Elternhaus, Lehrer oder die Rahmenbedingungen?

Datenbibel der Bildungsforscher

Largo begibt sich zunächst auf die Suche, vor allem mithilfe einer monumentalen Studie des neuseeländischen Bildungsforschers John Hattie, der insgesamt 50.000 Studien ausgewertet hat. Die Studie ist in den vergangenen Jahren zur Datenbibel der Bildungsforscher avanciert. Manch übliches Instrument wie Noten, Hausaufgaben und Klassen über mehrere Jahrgänge hinweg bleiben demnach ohne Einfluss auf die Schülerleistungen, andere wie Sitzenbleiben sind sogar schädlich.

Über den Erfolg in der Schule entscheiden unter anderem die Familien, die Gleichaltrigen und nur zu einem geringen Teil die Schulen selbst. Die wichtigsten Faktoren aber sind die Schüler (50 Prozent Gewicht) sowie die Lehrer (30 Prozent) - deren Motivation, Einfühlungsvermögen, aber auch ihre Fähigkeit, eine Vertrauensbasis aufzubauen.

Ausgerechnet die wichtigste Größe, die Schüler, bekommt Largo aber kaum zu fassen. Es gehe hier vor allem um die "Kompetenzunterschiede" zwischen den Schülern, schreibt der Forscher. Ob schlechte Schüler gute nach unten ziehen, inwiefern begabte Schüler andere mitziehen, dies lässt Largo leider offen. Doch gerade das beschäftigt viele Eltern.

Spannend wird es da, wo der Schweizer konkret wird: Was heißt das nun für die Arbeit der Schulen? Largo will Druck von den Kindern nehmen, ihnen die Zeit geben, zum Stoff zu kommen, statt ihnen den Stoff einzubläuen. Denn die Neugier ist da. "Kinder sind eigentliche Lerngenies", schreibt Largo. Also fordert er den Abschied von sturem Auswendiglernen, von Prüfungen und Noten; sie zeigten ja nur, dass man den Kindern nicht zutraue, von sich aus lernen zu wollen. Für Largo sind das Instrumente einer "Treibjagd".

Wirkliche Chancengerechtigkeit auch für Kinder ärmerer oder zugewanderter Eltern sieht er längst nicht erreicht. Er warnt allerdings zugleich vor dem Traum, dass alle Kinder einst Abitur machen könnten. Auch das zählt zur Individualität: Die Anlagen seien eben unterschiedlich und deshalb nicht jeder Schüler für den Hochschulabschluss geeignet.

Lehrer mutieren selbst zu Lernenden

Was also muss sich ändern? In Largos neuer Bildungswelt mutieren die Lehrer selbst zu Lernenden, eignen sich Wissen an über die kindliche Entwicklung und können so ihre Schüler passgenau fördern. Sie unterziehen ihren Unterricht einer kritischen Analyse von außen und bilden sich stetig fort. Sie arbeiten oftmals in autonomen Schulen, die neben den staatlich geführten entstehen. Die neuen Einrichtungen sind weitgehend unabhängig von den Vorgaben der Kultusminister, erhalten aber genauso Geld wie öffentliche Schulen. Jeder kann seine Schule frei wählen, Noten und Prüfungen sind verschwunden.

Das beflügelt die Phantasie in einer Zeit, in der viel debattiert wird über Leistungsdruck, über Bulimie-Lernen vor dem Abitur. Wirklich praxistauglich klingt dies aber nicht. Wie sollen Schulen - und später Hochschulen oder Arbeitgeber - verlässlich feststellen, was jemand kann, wenn es keine Noten mehr gibt? Wer greift ein, wenn Missstände autonome Schulen zum Skandalfall machen? Und ist es wirklich ein Fortschritt, wenn der föderale Flickenteppich aus 16 Schulsystemen einem Mosaik aus Tausenden autonomen Schulen weicht?

Ohne staatlichen Rahmen und Erfolgskontrolle wird die neue Bildungswelt nicht funktionieren.

Remo H. Largo: Wer bestimmt den Lernerfolg: Kind, Schule, Gesellschaft? Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2013, 112 Seiten, 9,95 Euro.

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SZ vom 25.11.2013/jobr
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