Süddeutsche Zeitung

Schulen in der Pandemie:Macht mal

Die Kultusminister der Bundesländer reden viel von Chancengleichheit und Kindeswohl. Aber sie tun kaum etwas. Helfen müssen die Schulen und verschiedene Initiativen in Eigenregie.

Von Christian Füller

Das Corona-Hilfsprogramm der Anne-Frank-Gemeinschaftsschule in Karlsruhe trägt den Namen "Ein Kind fällt auf". Wenn Lehrer bemerken, dass Schüler abtauchen oder in Schwierigkeiten geraten, startet ein Stufenplan. An dessen Ende kann es sein, dass ein Lehrer losfährt und Schüler zu Hause aufsucht. "Die Frage des Kindeswohls beschäftigte uns schon immer", sagt die Lehrerin der Frank-Schule Susanne Posselt, "in der Corona-Pandemie haben sich allerdings die Problemlagen verschoben." Vorher ging es darum, dass Kinder sich nicht in eine Gruppe einfügen können. Das fällt nun mangels Gruppen weg. Stattdessen kommen jetzt Kinder ins Schlingern, weil sie keine Struktur in ihren Alltag bekommen.

In ganz Deutschland versuchen Schulen, sensibel für depressive Signale von Schülern zu sein - über die bundesweit übliche Notbetreuung hinaus. Im Pandemiejahr sind zudem Feuerwehr-Initiativen entstanden, etwa eine bundesweite Eltern-Hotline und ein Rund-um-die-Uhr-Krisenchat für Schüler. Die einzige Institution, die sich nicht so gründlich mit Risiken und Nebenwirkungen von Corona für Schüler befasst hat, scheint die Konferenz der Kultusminister (KMK) zu sein.

Dabei ist Bildungsgerechtigkeit seit Monaten das Mantra der Schulminister. Nordrhein-Westfalens Yvonne Gebauer (FDP) etwa nannte Präsenzunterricht die "höchste Form von Bildungsgerechtigkeit". In der KMK selbst standen Bildungsgerechtigkeit, Kindeswohlgefährdung oder psychische Belastungen als eigenständige Tagesordnungspunkte allerdings nie auf der Agenda. Auf Nachfrage teilt ein Sprecher der KMK mit, die Länder tauschten "sich am Rande der digitalen Sitzungen zur Corona-Pandemie" zu diesen Themen aus. Experten für Kindeswohlgefährdung oder depressive Stimmungen hat die Konferenz bisher nicht angehört.

Auch mit einer speziellen Corona-Hilfe für Schulen durch die Ministerien ist es nicht weit her. Es gab Milliarden vom Bund für die digitale Ausstattung der Schulen mit Laptops für Schüler und Lehrer sowie IT-Administratoren - aber nicht für Schulpsychologen. "Man ist in seinem kleinen Schulkosmos weitgehend auf sich allein gestellt", sagt die Schulleiterin der Waldschule Hatten, Silke Müller. Auch Rektoren aus anderen Ländern berichten von wenigen bis chaotischen Hinweisen aus ihren Ministerien. Bildungsgerechtigkeit habe vor allem rhetorisch dominiert - unter dem Motto "zurück in die Schule". Der Präsenzunterricht des deutschen Schulsystems ist seit den Pisastudien allerdings für eines gerade nicht bekannt: Chancengleichheit.

Es gibt zwei Arten, wie Schüler im digitalen Unterricht abtauchen: offensiv oder schleichend

Die Schulen machen den Eindruck, dass sie entschlossen und kreativ die Sorgen ihrer Schüler aufnehmen. Silke Müller, die Leiterin einer 800-Schüler-Einrichtung nahe Oldenburg, nennt zwei Arten, wie Schüler im digitalen Unterricht abtauchen: offensiv, indem sie sich einfach nicht mehr blicken lassen. Oder schleichend: Sie sind zwar in Videokonferenzen zu sehen, "zocken aber und beteiligen sich nicht". Müller lädt die Schüler dann, wie sie es formuliert, "zu einem Wort zum Sonntag mit mir ein. Das wirkt meistens." In Stufe zwei werden die Schüler in die Notbetreuung gebeten. Und es gibt noch Stufe drei: Die Lehrer kommen zum Schüler. "Die werden dann morgens im Schlafzimmer überrascht - sofern die Eltern mitspielen: 'Moin Moin, zieh dich an, es geht los'", berichtet Müller. Wenn das in der Schule die Runde macht, ist der Effekt groß.

Susanne Posselt aus Karlsruhe tritt dem Vorurteil entgegen, dass nur Kinder aus Hartz-IV-Familien im Distanzunterricht verloren gehen. Zunächst handele es sich um Kinder von Eltern, "die so wenig Zeit haben, dass sie nicht für einen strukturierten Alltag zu Hause sorgen können". Bei einer zweiten Gruppe gehe es um die mangelnde Bildungsaffinität der Eltern. "Manchmal fehlt auch schlicht der Platz, um sich zu Hause in Ruhe auf eine Videokonferenz konzentrieren zu können", sagt Posselt. Und es gibt noch eine dritte Gruppe: Eltern, die ihre Kinder überbehüten. "Das führt zu einer Verweigerungshaltung bei den Kindern. Die lernen dann einfach nicht, selbständig zu arbeiten."

Die Don-Bosco-Schule in Rostock, eine freie katholische Schule, besticht durch eine eigene Schulpsychologie. Zwei Lehrerinnen haben eine Spezialausbildung, bei den Katholiken Seelsorge genannt. Gert Mengel, Leiter der Schule, ist froh um diese Speziallehrerinnen. Er hat in Befragungen seiner 660 Schüler ein widersprüchliches Ergebnis erzielt: "Die Schüler geben sehr positive Rückmeldungen zum Distanzunterricht. Aber 40 Prozent sagen gleichzeitig, dass diese Form des Unterrichts für sie eine psychische Belastung sei - wegen des Verlorenseins zu Hause."

Wie groß die Dimension der Sorgen sein kann, zeigen die Erfahrungen des Krisenchats. Er gibt Schülern 24 Stunden am Tag die Möglichkeit, mit Psychologen zu chatten. In den neun Monaten seit Gründung wurden 17 000 digitale Kummergespräche via Messenger geführt. "Im Chat kommt alles an - Liebeskummer, familiäre Konflikte, Zukunftsängste", sagt die psychologische Leiterin des Krisenchats, Melanie Eckert. Rund ein Fünftel der Schüler äußerten im Chatverlauf depressive Stimmungen bis hin zu suizidalen Gedanken. Eckert berichtet auch von mehreren Fällen von Kindeswohlgefährdung pro Tag. Ein speziell geschultes Team kläre die Kinder dann auf, "wie sie sich in bestehende Strukturen in Sicherheit bringen können".

Psychologin Eckert beobachtet eine generelle Unterversorgung in der psychologischen Betreuung von Schülern. "Um die Versorgungslücke abzudecken, bräuchten wir - und andere - viel mehr finanzielle Unterstützung", sagt sie. Die 250 psychologischen Berater des Krisenchats arbeiten ehrenamtlich. Gefördert wird die Initiative von Stiftungen und einer Krankenkasse. Versuche, Familienministerin Franziska Giffey (SPD) für das Projekt zu begeistern, sind gescheitert. Kontakt zu den Kultusministern kam nicht zustande. "Es ärgert uns, dass viel geredet wird, aber kaum einer etwas gegen die Probleme da draußen unternimmt", meint Eckert.

Ähnlich ist die Situation bei der Eltern-Hotline, die im März 2020 aus dem Berliner Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie heraus entstand. Die Hotline ist eine bundesweite Anlaufstelle für Eltern, um sich Tipps und Hinweise zu holen. Angenommen werde sie vor allem von Eltern, die wenig Deutsch sprechen, sagt Gründer Dieter Dohmen. "Die rufen an, weil sie sich überfordert fühlen". Die Hotline verweist auf Informationsmaterial in 14 Sprachen. Im Januar gab es rund 50 000 individuelle Zugriffe auf die Online-Angebote. Über das Jahr hinweg bedienten zehn Mitarbeiter das Nottelefon - doch mangelt es auch hier an Geld. Die Förderung durch eine Stiftung lief Ende 2020 aus.

Wie die Lage von Schülern während der Schulschließungen wirklich ist, lässt sich nicht so einfach sagen. Es gibt bislang nur wenige seriöse Studien über ihr Befinden. Das Uniklinikum Hamburg-Eppendorf befragte 1000 Schüler und fand heraus, dass deren psychische Belastung zugenommen hat. 30 Prozent der Schüler gaben an, unter allgemeinen Ängsten zu leiden - doppelt so viel wie vor Corona. Allerdings betonte die Leiterin der Studie, dass eine solche Belastung noch keine psychische Krankheit sei.

Die jüngste, sehr breit angelegte Studie fand im Land der neuen KMK-Präsidentin Britta Ernst (SPD) statt, in Brandenburg. Bei der Befragung von 17 000 Schülern stellten die Forscher fest, dass die hohe Zufriedenheit der Jugendlichen mit ihrer Lebenssituation "von der Corona-Pandemie nicht grundlegend beeinträchtigt worden ist". Vielleicht gibt es auch Jugendliche,die die Entschulung im Zuge von Corona genießen - oder sich einfach über die Freiräume beim digitalen Lernen freuen.

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SZ vom 01.03.2021
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