Schule:"Bildungspolitiker lassen sich durch gefühlte Fakten leiten"

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An NRW-Schulen wird zu wenig Wirtschaft unterrichtet. Oder? (Foto: Daniel Karmann/dpa)
  • Wirtschaftsverbände und Unternehmen bemängeln immer wieder, dass an den Schulen zu wenig ökonomische Bildung stattfindet.
  • Zum Schuljahr 2020/21 führt die Landesregierung Nordrhein-Westfalens an allgemeinbildenden Schulen das Pflichtfach Wirtschaft ein.
  • Eine Studie aber zeigt: Schon jetzt ist für Schüler in NRW viel mehr Zeit für ökonomische als für politische und gesellschaftliche Themen vorgesehen.

Von Larissa Holzki

An deutschen Schulen kommt die ökonomische Bildung zu kurz. Das ist von Wirtschaftsverbänden und Unternehmen immer wieder zu hören. Und viele Menschen teilen diese Ansicht: Schließlich wissen nur wenige Schüler am Ende der Schulzeit, wo sie einmal arbeiten wollen und wie sie dann für das Alter vorsorgen sollen. Die Landesregierung von CDU und FDP in Nordrhein-Westfalen hat nun Fakten geschaffen: Vom Schuljahr 2020/21 an soll an allen allgemeinbildenden Schulen im Land das Pflichtfach Wirtschaft unterrichtet werden. Der Unternehmerverband gratulierte prompt. Aber ist das wirklich nötig?

Reinhold Hedtke, Sozialwissenschaftler an der Uni Bielefeld, beobachtet die Debatte seit Jahren mit Skepsis. "Von dem einen Lager wird mehr Wirtschaft gefordert, von dem anderen mehr politische Bildung, aber niemand weiß genau, wie die Lage an den Schulen wirklich ist", sagt er.

Bundesländer im Vergleich
:Wo werden Schüler am besten auf den Arbeitsmarkt vorbereitet?

Das untersucht der Bildungsmonitor des IW. Dieses Jahr überrascht ausgerechnet Berlin die Ökonomen. Um mehr über die Informatikkenntnisse zu erfahren, fordern sie bundesweite Tests.

Zusammen mit seinem Kollegen Mahir Gökbudak hat er sich deshalb Lehrpläne und Stundentafeln vorgenommen und durchgerechnet, wie sich die gesamte Lernzeit für Wirtschaft, Politik und Sozialkunde an allgemeinbildenden Schulen von Klasse fünf bis zehn verteilt - ein kompliziertes Unterfangen, weil Fragen etwa zum politischen System der Europäischen Union oder zum Freihandel oft in einem Fach besprochen werden. Das überraschende Ergebnis liegt der Süddeutschen Zeitung exklusiv vor: Schon jetzt ist für Schüler in NRW viel mehr Zeit für ökonomische als für politische und gesellschaftliche Themen vorgesehen. Die Schlussfolgerung ist für Hedtke klar: "Bildungspolitiker lassen sich durch gefühlte Fakten leiten."

Je nach Schulform machen wirtschaftliche Inhalte an NRW-Schulen 56 bis 69 Prozent der Inhalte in diesem Fachbereich aus, die Politik 20 bis 28 Prozent. Sämtliche soziale Themen werden in elf bis 18 Prozent der Lernzeit durchgenommen. Am größten ist der Wirtschaftsanteil an den Gesamtschulen. In anderen Bundesländern, vermuten die Wissenschaftler, könnte die Tendenz sogar noch deutlicher ausfallen. Verlässliche Zahlen liegen noch nicht vor.

Hedtke widerspricht daher auch SPD und Grünen in NRW, die der Regierung eine für Union und FDP typische Klientelpolitik vorwerfen. "Wenn Interessensvertretungen jahrelang den Mangel an ökonomischer Bildung beklagen, setzt sich in den Köpfen fest, dass da ein Handlungsbedarf besteht - und zwar bei Bildungspolitikern aller Couleur", sagt er.

Ins Gewicht fällt bei der Berechnung, dass Hedtke und Gökbudak auch außerunterrichtliche und außerschulische Bildung einbezogen haben, die für Schüler in NRW verpflichtend ist. Im Bereich Wirtschaft sind da aufzuzählen: die Berufsorientierung bei der Bundesagentur für Arbeit; eine "Potenzialanalyse" für Achtklässler, die von privatwirtschaftlichen Anbietern durchgeführt wird; "Berufsfelderkundungen" wie ein mindestens zweiwöchiges Betriebspraktikum.

Ähnliche Maßnahmen gibt es in den Bereichen Politik und Soziales nicht: kein verpflichtendes Sozialpraktikum, kein Politikpraktikum, in dem Schüler lernen würden, in politischen Zusammenhängen aktiv zu werden. Zwar könnten engagierte Lehrer diese Lücke schließen, aber das überlasse die Bildungspolitik dem Zufall, sagt Hedtke: "Angesichts dessen, dass immer mehr Menschen sich von der Demokratie distanzieren, dass die soziale Ausgrenzung und der Fremdenhass zunimmt, finde ich das bedenklich. Wenn man etwas über Gesellschaft und Politik lernen will, muss man aus der Schule rausgehen."

Untersuchungen zum Thema fehlen

Betrachtet man den Anteil von Wirtschaftsunterricht im Kontext aller Fächer, schwindet der scheinbare Eindruck der Dominanz allerdings. 62 Minuten Unterrichtszeit pro Woche werden an Gesamtschulen im Schnitt für Ökonomie genutzt, am Gymnasium sind es 48 Minuten. Und am Ende sind es doch oft die Schüler selbst, die klagen, dass sie nicht wissen, welcher Weg der richtige für sie ist. Brauchen sie dabei nicht doch mehr Hilfe? "Ich bin überhaupt nicht optimistisch, dass man das mit Maßnahmen der Berufsorientierung in den Griff bekommen kann", sagt Hedtke. "Wenn ich mir allein die Zahl der Ausbildungsberufe und Studiengänge anschaue, ist eine rationale Entscheidung gar nicht möglich. Die Schüler brauchen Abstand und dann treffen sie eine Entscheidung."

Tatsächlich fehlen bisher Untersuchungen dazu, wie effizient verschiedene Maßnahmen der Berufsorientierung sind. Diese sollte man aber anstellen, bevor man mehr davon fordert, sagt Reinhold Hedtke: "Wenn man bildungspolitisch etwas ändern will, dann bitte auf wissenschaftlicher Grundlage."

© SZ vom 17.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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