Druck in der Schule:"Ich kann nicht mehr"

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(Foto: Thought Catalog/Unsplash)

Schulpsychologen kümmern sich um Kinder und Lehrer, die zu viel Druck haben, gemobbt werden oder gar über Suizid nachdenken. Wer in der Klasse Hilfe braucht, verraten Hans-Joachim Röthlein oft Mitschüler.

Interview von Julian Erbersdobler

Sie sind gestresst, frustriert, verzweifelt: Schülerinnen und Schüler leiden laut Studien immer häufiger an seelischen Problemen. Eine Analyse der Kaufmännischen Krankenkasse brachte kürzlich ans Licht: 13- bis 18-Jährige sind heute doppelt so oft psychisch krank wie vor zehn Jahren. Aber auch Lehrer erkranken häufiger. Schulpsychologen wie Hans-Joachim Röthlein versuchen zu helfen.

SZ: Herr Röthlein, neulich hat ein Münchner Schüler eine Petition gestartet. Er fordert in der Schule mehr Aufklärung über Depression. Ist das wirklich nötig?

Hans-Joachim Röthlein: Das ist sehr wichtig, weil es um eine Volkskrankheit geht. Ich bin selbst an Schulen, spreche mit Kindern und Jugendlichen, aber auch mit Lehrkräften über depressive Entwicklungen. Die Sensibilität für das Thema ist größer als früher, aber es gibt noch viel zu tun.

Woran merkt ein Lehrer, dass ein Kind in seiner Klasse seelische Probleme hat?

Wenn sich ein Schüler im Unterricht immer mehr zurückzieht, kann das ein Indiz sein. Manchmal fallen auch Zeichnungen im Kunstunterricht auf. Viele Hinweise kommen aber auch von den Kindern selbst. Sie wissen sehr viel, was Lehrkräfte und Psychologen nicht wissen. Sie sehen zum Beispiel auf Instagram, dass ein Freund oder eine Freundin ein Bild auf einer Brücke postet und dazu einen Text schreibt, der ihnen komisch vorkommt. Oder Nachrichten auf Whatsapp, in denen steht: Ich kann nicht mehr.

Wie kriegen Sie die Schüler dazu, dieses Wissen mit Ihnen zu teilen?

In vielen Fällen kommen sie von sich aus auf uns zu. Ein guter Ansatz ist auch immer, mit Meinungsführern zu sprechen. Das muss nicht immer der Klassensprecher sein. Es sind Jungen oder Mädchen, deren Wort in der Klasse zählt. Viele haben da ein ganz feines Gespür. Ich habe auch schon Geschichten gehört, die ich nicht glauben konnte.

Zum Beispiel?

Wenn jemand daran denkt, sich das Leben zu nehmen, kommt es vor, dass andere Kinder stundenlang wach bleiben, mit der Person chatten und sie coachen. Ich habe erlebt, dass manche sogar mitten in der Nacht aufstanden, sich daheim bei einer suizidgefährdeten Mitschülerin trafen, eine Krisensitzung machten, anschließend in der Früh wieder nach Hause schlichen, sich ins Bett legten und so taten, als hätten sie geschlafen. Danach saßen sie völlig übermüdet und verstört im Unterricht.

Wie gehen Sie vor, wenn Sie Hinweise erhalten, dass es einem Kind nicht gut geht?

Ich suche erst mal das Gespräch mit dem betroffenen Schüler. Hat er Prüfungsangst? Gibt es daheim Ärger? Wird er gemobbt, oder gibt es vielleicht einen ganz anderen Grund? Danach entscheide ich, wie es weitergeht. Dann folgen zum Beispiel Gespräche mit Lehrkräften und den Eltern. Wenn es um schwerwiegende Fälle geht, kümmere ich mich auch um einen Therapieplatz.

Wenn es zum Schlimmsten kommt, ein Schüler sich das Leben nimmt - wie vermittelt man das den Mitschülern?

Das ist ein wichtiger Punkt. Wem wird was mit welchen Worten und von wem in welchem Setting erzählt? Es ist nicht immer leicht, den Begriff Suizid zu verwenden, weil die Hinterbliebenen das nicht immer wollen. Besonders, wenn sich Lehrer das Leben nehmen. Das Schwierige ist nur, wenn das Gerücht ohnehin schon die Runde macht. Dann muss der Schulleiter im Einzelfall entscheiden. Aber die Todesnachricht muss auf jeden Fall die Schüler erreichen, in welcher Form auch immer.

Eltern können Lehrer völlig fertigmachen

Sie betreuen auch Lehrkräfte. Mit welchen Problemen kommen die zu Ihnen?

Das ist ganz unterschiedlich. Ich habe schon mit Lehrkräften gesprochen, die auf irgendwelchen Internetseiten als pädophil bezeichnet wurden, mehrfach kommentiert und verbreitet. Oder die während des Unterrichts ähnlich diffamiert wurden. Das belastet manche so stark, dass sie nicht mehr können und von der Schule gehen. In ganz seltenen Fällen kommt es auch vor, dass Schüler behaupten, sie seien sexuell bedrängt worden, und es stimmt einfach nicht. Das ist eine schulische Katastrophe für alle Beteiligten.

Auch Eltern machen Druck auf Lehrer.

Dieser erlebte Druck zwingt nicht wenige Lehrkräfte in die Knie. Da fallen schon mal vernichtende Worte. Viele Lehrkräfte gehen demoralisiert aus den Elterngesprächen und sind völlig geknickt. Zu viele haben Panik vor solchen Terminen, weil manchmal sogar beide Elternteile nichts anderes im Sinn haben, als die Kompetenz einer Lehrkraft instrumentell anzuzweifeln. Es werden Beschwerden eingereicht, manchmal sogar Klagen. Ich weiß aus Gesprächen, dass davon gerade Lehrkräfte in der Grundschule betroffen sind.

Wegen des Übertritts zum Gymnasium?

Genau. Wenn manche Eltern hören, dass ihr Kind nicht fürs Gymnasium geeignet ist, empfinden sie das als Katastrophe. Sie verlieren die Nerven und akzeptieren die Entscheidung nicht. Warum ist das ein Fehler? Die Frage kann man so doch gar nicht stellen! Dann machen sie Druck auf die Lehrkraft, das irgendwie hinzubiegen. Bei dieser Aufgabe müssen Sie noch einen halben Punkt dazugeben! Ständig muss die Lehrkraft ihr Notensystem rechtfertigen. Ich finde das furchtbar. Da gibt es großen Handlungsbedarf.

Druck in der Schule: Hans-Joachim Röthlein, Jahrgang 1953, ist Vorsitzender des Landesverbands bayerischer Schulpsychologen. Er arbeitet im Krisenmanagement und unterstützt Lehrer und Schüler beim Umgang mit Suiziden.

Hans-Joachim Röthlein, Jahrgang 1953, ist Vorsitzender des Landesverbands bayerischer Schulpsychologen. Er arbeitet im Krisenmanagement und unterstützt Lehrer und Schüler beim Umgang mit Suiziden.

(Foto: Marco Einfeldt)

Woher kommt die Annahme, dass heute jedes Kind aufs Gymnasium gehört?

Das werden jetzt einige nicht gern hören: Es hat auch etwas mit dem Narzissmus der Eltern zu tun.

Inwiefern?

Für manche ist es ganz schwer zu ertragen, wenn das eigene Kind nicht in die Fußstapfen der Mutter oder des Vaters treten kann, sondern einen anderen Weg geht. Der Kampf dafür, dass alle Kinder aufs Gymnasium kommen, ist oft nicht nur im Interesse des Kindes. Es geht auch um den sozialen Vergleich. Was sagen die Nachbarn, wenn es doch nur die Realschule oder gar die Mittelschule wird? Was sagen die guten Freunde aus den akademischen Kreisen? Bei manchen Eltern kratzt das am Ego.

Sie intervenieren in Krisen, wenn es schon sehr ernst oder gar zu spät ist. Wie nah lassen Sie das an sich heran?

Das ist immer wieder ein Balanceakt. Wer sich zu sehr identifiziert, leidet selbst und ist für andere nicht mehr hilfreich. Wer sich zu sehr distanziert, verliert seine Empathiefähigkeit. Ich vergleiche das immer mit einem Chirurgen, der am offenen Herzen operiert. Der braucht ein Maß an Distanz, um diesen Job überhaupt machen zu können. Aber er darf sich emotional auch nicht so weit entfernen, dass er meint, eine Maschine zu reparieren.

Nach dem Amoklauf in der Schule in Winnenden vor zehn Jahren waren Sie mit einer Gruppe bayerischer Schulpsychologen vor Ort. Woran erinnern Sie sich?

Ich war dort im Auftrag des bayerischen Kultusministeriums. In manchen Klassenzimmern lagen noch Tage nach der Tat Brotpapiere und angebissene Semmeln verstreut umher. Dazwischen überall Blutspritzer, Löcher in der Wand und in der Tafel. Da hat mich das Grauen gepackt.

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