Schule:So wollen Schulen gestressten Kindern helfen

IGLU-Studie

Schon in der Grundschule müssen die Kinder Nervenstärke beweisen.

(Foto: Daniel Reinhardt/dpa)

Stress bereitet Schüler aufs Leben vor, findet mancher Erwachsene. Ein Wissenschaftler sieht das anders - und kämpft gegen den gefühlten Druck im Klassenzimmer.

Von Matthias Kohlmaier

Mia ist aufgeregt, und zwar sehr. Erst nestelt sie an ihrem Federmäppchen herum, dann spielt sie mit ihrem Lineal, das prompt herunterfällt. Sie hebt es umständlich auf und blickt hinüber zu dem Besuch, der da auf dem Sofa hinten rechts im Klassenzimmer Platz genommen hat. Grundschullehrerin Tanja Nünlist spürt die Unruhe im Klassenzimmer. Sie weiß, dass die Viertklässler gerade nicht sonderlich aufnahmefähig sind. Also schaltet sie die Stereoanlage ein.

"Sit comfortably, close your eyes, relax", sagt Nünlist: Entspannt euch, schließt die Augen, sitzt bequem. Aus den Lautsprechern rauscht das Meer, Möwen kreischen und Nünlist erzählt vom Strand und dem Ozean, von der leichten Brise, die einem dort um die Nase weht. Fantasiereise nennt sich das. Und die Kinder? Haben ihre Köpfe auf die Tische gelegt. Die Rücken heben und senken sich. Niemand hampelt mehr herum oder macht sich über die Entspannungsübung lustig.

Wenn Schüler unruhig und gestresst sind, kann das viele Ursachen haben. Mobbende Mitschüler etwa oder ungeduldige Lehrer. Mit Abstand am häufigsten ist jedoch die Angst vor Prüfungen und schlechten Noten. So hat es auch Josef Meier erlebt, der Wissenschaftler, der heute in die St. Anna Grundschule in Augsburg gekommen ist, um sein Projekt zu erklären. Meier, jahrelang selbst Lehrer an verschiedenen Schularten, sagt: "Die Eltern haben mir in Sprechstunden so oft erzählt, dass ihre Kinder sich mit viel Aufwand auf eine Prüfung vorbereitet und dann doch aus Nervosität versagt hätten." Das sei für alle Beteiligten frustrierend gewesen und habe zu Motivationsproblemen geführt.

Meier wollte helfen, war davon überzeugt, dass eine objektive Leistungsbeurteilung nur möglich ist, wenn die Schüler entspannt sind. Was hilft schon wochenlanges Lernen, wenn in der Prüfung der Blackout das Hirn leerräumt? Seitdem hat Josef Meier ein Projekt: Es heißt stressreduziertes Lernen, kurz SRL. Ein Jahr lang hat er an seiner damaligen Schule mit Schülern, Lehrern, Eltern mental trainiert, Entspannungsübungen durchgeführt, Atemtechniken erklärt - und es half. "Die Kinder waren entspannter und haben konzentrierter mitgearbeitet", sagt Meier.

Auf der Suche nach dem Alpha-Zustand

Meier hielt Vorträge, schulte Kollegen, erstellte Lehrmaterialien. Mittlerweile werden Tausende Schüler in 17 europäischen Ländern sowie in Südafrika nach den Prinzipien des SRL unterrichtet. Von Lehrkräften wie Tanja Nünlist. Die sagt: "Als Lehrer muss man Autoritätsperson und Vorbild sein. Mir ist es wichtig, den Schülern vorzuleben, dass es sich ohne Stress am besten lernen lässt."

Dieses "ohne Stress" schlägt sich beim SRL im sogenannten Alpha-Zustand nieder. In diesem Bewusstseinszustand bewegen sich die Energiewellen im Gehirn mit etwa sieben bis 14 Hertz. Es brauche aber eine Menge Übung für Lehrkräfte, um ihre Schüler tatsächlich durch eine betont ruhige Ansprache in diesen Zustand zu versetzen, sagt Meier: "Mentales Training ist auch Arbeit." Wenn alles klappt, verringert sich die Pulsfrequenz, sinkt der Blutdruck, verlangsamt sich die Atemfrequenz. Ein Zustand der Ruhe, in dem sich der Mensch zum Beispiel kurz vor dem Einschlafen befindet - und der laut Meier ideal ist, um Neues zu lernen.

Kuschelpädagogik!, schimpfen die Kritiker

Im Rahmen seines Habilitationsverfahrens hat Meier eine Studie an verschiedenen Schularten in Deutschland durchgeführt. Es beteiligten sich 50 Lehrer mit insgesamt 70 Klassen. Durch das Lehrernetzwerk LTE konnte Meier seine Studie auf 15 Länder Europas ausweiten, die Gesamtpopulation beträgt fast 10 000 Schüler. Erste Ergebnisse der noch unveröffentlichten Untersuchung liegen der Süddeutschen Zeitung vor. Mehr als 50 Prozent der befragten Schüler stimmten in manchen Ländern demnach der Aussage "Ich bin vor jedem Test nervös" zu, in Deutschland waren es 56,1 Prozent (siehe Grafik). Nachdem sie mit Elementen des stressreduzierten Lernens unterrichtet worden waren, sagten in Deutschland mehr als ein Drittel der Betroffenen, sie fühlten sich nun viel entspannter vor Prüfungen. Bei ihren spanischen Kollegen war dieser Meinung sogar mehr als jeder Zweite. Ein beeindruckendes Ergebnis, findet Meier.

Entspannen, Stress reduzieren, Angst vor Prüfungen lindern: Kuschelpädagogik schimpfen das Kritiker. Ein bisschen Stress schade den Kindern nicht, sondern bereite sie aufs echte Leben vor. Dabei bleibt aber etwas außenvor: Wer im echten Leben zum Beispiel Arzt werden will, muss Medizin studieren; wer Medizin studieren will, muss ein gutes Abitur vorweisen; wer überhaupt Abitur machen möchte, muss aufs Gymnasium; wer ohne nervzehrende Umwege aufs Gymnasium will, braucht zum Beispiel in Bayern ein entsprechendes Übertrittszeugnis in Klasse vier. 2,33 darf der Durchschnitt aus den Zensuren in Mathematik, Deutsch und Heimat- und Sachunterricht betragen.

Fast jeder zweite bayerische Dritt- und Viertklässler zeige erhöhte Stresswerte, die zum Teil "alarmierend" seien, hat der Würzburger Bildungsforscher Heinz Reinders in einer Studie herausgefunden. "Wenn es auf den Übertritt zugeht, müssten wir die Eltern eigentlich fast mitentspannen", meint Grundschulpädagogin Tanja Nünlist.

Schule: SZ-Grafik; Quelle: Dr. Josef Meier, Didaktik des Englischen, Universität Augsburg

SZ-Grafik; Quelle: Dr. Josef Meier, Didaktik des Englischen, Universität Augsburg

Und damit zurück in die Unterrichtspraxis. Denn dort zeigte sich vielen Lehrkräften schnell, dass kurze Entspannungsübungen vor Prüfungen den Kindern nicht nur halfen, gelassener an die Arbeit zu gehen - ihre Noten wurden auch besser. Lehrerin Nünlist nutzt gern die Technik der Visualisierung. Zu den Schülern sagt sie vor einer Probe Dinge, wie: "Erinnere dich, was wir zu diesem Thema für einen Hefteintrag gemacht haben." So haben die Schüler den Stoff, den sie schon einmal notiert haben, wieder präsent. Blackouts ließen sich durch diesen Kniff oft vermeiden.

Dass bessere Noten schreibt, wer locker in die Prüfung geht, klingt naheliegend. Josef Meier ist zuversichtlich, dass sich die Annahme bald auch empirisch bestätigen lässt. Der Englisch-Didaktiker hat mehrere Zulassungsarbeiten an seine Studenten vergeben, die das Thema untersuchen. Kürzlich, sagt er, sei eine Studentin bei ihm in der Sprechstunde gewesen und habe gemeint, die Tendenz sei "eindeutig positiv".

Und wie finden nun die Schüler das gelegentliche Entspannen im Unterricht? Mia meint: "Mir macht das Meditieren Spaß, weil dann alle in der Klasse ganz ruhig sind." Nun müsse sie sich aber wieder auf ihren Hefteintrag zum Thema Elektrizität konzentrieren. So schlecht scheint das nicht zu funktionieren mit der vermeintlichen Kuschelpädagogik.

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