Schule:So funktioniert Inklusion an Schulen

Jutta Spranz, Inklusionslehrerin

Jutta Spranz, Inklusionslehrerin

(Foto: Evelyn Dragan)

Jutta Spranz übernahm vor Jahren die erste Inklusionsklasse Baden-Württembergs. Ihre Arbeit bereichert sie jeden Tag neu.

Von Silke Stuck

Im Kollegium hatten alle schon abgewunken, als der Rektor zu Jutta Spranz trat: "Kannst du nicht?" Sie hatte schon immer eine Leidenschaft für besondere Schulformen. Und in ihrer Montessori-Ausbildung hatte Jutta Spranz mit behinderten und nicht behinderten Kindern gearbeitet. Also übernahm sie die erste Inklusionsklasse der Albert-Schweitzer-Werkrealschule in Freiburg, die erste des Landes Baden-Württemberg.

Sechs Jahre ist das her. Sie ließ den Sommerurlaub ausfallen, räumte das Klassenzimmer um, richtete Einzelarbeitsplätze ein, entsorgte alte Schulbücher, schaffte Montessori-Materialien an. Und den runden roten Teppich, um den gerade die 17 Schüler der 5 a sitzen. Es ist halb neun Uhr morgens. Manche Kinder sind mit dem Kopf irgendwo, nur nicht in diesem Raum. Manche halten es vor Energie kaum in ihren Körpern aus. Jutta Spranz spricht in einfachen Sätzen, erinnert an die erste Stuhlkreisregel, die alle laut zusammen wiederholen: "Still sein." - "Frau Spranz, da ist Wespe", ruft ein Schüler dazwischen. Für zwei Drittel der Kinder ist Deutsch nicht die Muttersprache.

250 Schüler mit 25 Nationalitäten besuchen die Albert-Schweitzer-Werkrealschule. In die 5 a gehen fünf Kinder mit sogenanntem erhöhten Förderbedarf. Sie haben Probleme beim Lesen oder Schreiben, sind begrenzt aufnahmefähig, können sich einen Zahlenraum nicht vorstellen, manche sind verhaltensauffällig. "Ich müsste nachgucken, wer was hat", sagt Jutta Spranz.

Jutta Spranz, 66 Jahre ledig, zwei erwachsene Töchter

Beruflicher Werdegang: Technik- und Mathematikstudium in Freiburg, Referendariat in Freiburg und Bremen. Danach zehn Jahre Besitzerin eines Ladens für Holzspielzeug. Zusatzausbildung zur Montessori-Pädagogin. Seit 2005 wieder im Schuldienst an der Albert-Schweitzer-Werkrealschule in Freiburg im Breisgau.

Als Schülerin war ich selbst: keine Musterschülerin. Aber ich bin immer sehr gern hingegangen.

Deshalb wurde ich Lehrerin: Meine Großmutter war eine wichtige Bezugsperson für mich - sie war auch Lehrerin.

Eigenschaft, die mir vor der Klasse am meisten hilft: Wenn es mal schwerer wird, denke ich: "Die Kinder wollen einfach nur geliebt und anerkannt werden und gut sein." Das relativiert vieles.

Ein Satz, den ich von Eltern nicht mehr hören kann: "Sie müssen strenger sein."

Überraschendster Moment im Klassenzimmer: Einmal habe ich Kuchen mitgebracht, als Geste. In der Klasse waren damals viele Migrantenkinder. Sie rührten den Kuchen nicht an, drei Stunden lang. Irgendwann probierte der Anführer. "Schmeckt", sagte er. Aber der Kuchen wurde nicht aufgegessen. Jede Woche habe ich einen mitgebracht. Nach vier Wochen stürzten sich alle darauf. Erst später habe ich verstanden: Die Kinder waren es nicht gewohnt, dass ihnen jemand einfach so etwas Gutes tun will.

Das sagen die Schüler:

"Sie kann gut erzählen und erklären." "Freitags kriegen wir leckeren Kuchen." "Dienstags ist immer Forschertag, da gehen wir zusammen in die Stadt, und danach kochen wir uns was."

Keines der Kinder weiß, wer Förderschüler ist und wer nicht. Auch manche Lehrer nicht. 2009 hatte Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben und sich verpflichtet, Schüler mit und ohne Handicap gemeinsam zu unterrichten.Viele wehrten ab: Wie sollen behinderte und nicht behinderte Schüler gemeinsam lernen? "Wie alle anderen auch", sagt Jutta Spranz. "Jede Klasse in Deutschland ist heute eine Inklusionsklasse." Denn: Den typischen Fünft- oder Neuntklässler gebe es nicht. "Auch nicht am Gymnasium. Die Kinder haben völlig unterschiedliche Ausgangssituationen: Nationalitäten, Familien- und Krankheitsgeschichten. Wir können darauf nur reagieren, indem wir jeden auf seinen eigenen Weg bringen, ihm zeigen, was er kann und wozu es im Leben gut ist."

Das Konzept, das Jutta Spranz im Jahr 2011 für ihre erste Inklusionsklasse schrieb, trug den Titel "Heterogenität als Bereicherung". Das sei Inklusion für sie. Eine Haltung, das vor allem. Deshalb unterrichtet sie nicht Mathe oder Deutsch nach Lehrplan, sondern vergibt täglich 17 individuelle Arbeitsaufträge. Jedes Kind beginnt da, wo es steht, hat ein Lerntagebuch, wird durch Lernnachweise kontrolliert. Einmal in der Woche führt jeder Schüler mit ihr ein Bilanzierungsgespräch. "Das Kinder zählt mir, worauf es stolz ist und wo es sich weiterentwickeln will. Jeder soll an seine Grenze gehen, aber keiner soll abbrechen müssen, obwohl er weiter will." So gut wie alle Lehrer an der Schule arbeiten inzwischen genauso.

Die Morgenrunde ist beendet. Ein Mädchen lächelt nach exakt 27 Minuten zum ersten Mal, ein anderes legt sich zum Arbeiten auf den Boden. Jutta Spranz läuft durch die Klasse, erklärt, legt manchmal beruhigend die Hand auf eine Schulter. "Das ist nicht ganz richtig, schau mal", sagt sie zu einem Mädchen. - "Ist mir doch egal", patzt es zurück, macht aber weiter. Das individuelle Lernen sei am Anfang aufwendiger für den Lehrer, sagt Jutta Spranz. "Wenn es läuft, ist es sensationell." Dann arbeiteten die Kinder anderthalb Stunden am Stück. Inklusion hin oder her.

Süddeutsche Zeitung Familie
SZ Familie

Dieser Text stammt aus dem Magazin SZ Familie.

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