Süddeutsche Zeitung

Corona:Die Nervosität in den Schulen steigt

Lesezeit: 3 min

Obwohl es vereinzelt infizierte Kinder an Schulen gibt, sind sie kein wesentlicher Motor der Pandemie. Dennoch rücken Schulschließungen wieder in den Blick. Experten warnen dringend davor.

Von Susanne Klein

Orange, Rot, Dunkelrot - das reicht nicht mehr. Manche Medien haben für ihre Corona-Karten schon ein dunkles Violett dazugenommen, etwa für Frankfurt und Solingen, wo am Wochenende der Inzidenzwert von 200 Infektionen je 100 000 Einwohner in sieben Tagen überschritten wurde. Die Welle rollt, doch wie wird sich das diesmal auf die Schulen auswirken?

Gefährdet die rasante Entwicklung den mühsam errungenen Konsens in Politik und Gesellschaft, die Schulen wenn irgend möglich offen zu halten? In Berlin hat die Gesundheitssenatorin am Samstag Lockdown-ähnliche Maßnahmen vorgeschlagen, bei denen auf "Stufe 2" neben Bädern und Museen auch Kitas und Schulen geschlossen werden sollen. Wann die Stufe greifen soll, ist unklar, aber der Vorstoß zeigt: Die Nervosität steigt, der Konsens könnte schnell bröckeln.

"Wenn die Gesamtinzidenzrate in der Bevölkerung hoch ist, dann schwappt es natürlich auch in die Schulen rein", warnt Johannes Hübner in einer virtuellen Expertenrunde, die am vergangenen Freitag über die sozialen und wirtschaftlichen Kosten von Schulschließungen diskutierte. Zugleich betont der Kinderinfektiologe der Ludwig-Maximilians-Universität München, worüber Wissenschaftler sich heute weitgehend einig sind: Obwohl es vereinzelt infizierte Kinder an Schulen gebe, seien sie kein wesentlicher Motor der Pandemie.

Hübner, der auch leitender Oberarzt am Haunerschen Kinderspital in München ist, weiß mit dieser Aussage das Robert-Koch-Institut hinter sich. Das hatte am Donnerstag mitgeteilt, dass da, wo derzeit Cluster von Neuinfektionen mit mindestens fünf Personen entstehen, Schulen und Kitas eine fast verschwindend geringe Rolle spielen.

Die Krise kostet drei Prozent des Lebenseinkommens

Eingeladen zu der Gesprächsrunde hatte Andreas Schleicher, Bildungsdirektor der OECD. Schleicher ist Statistiker, also legt er zunächst einige Zahlen vor. So schätzt die OECD, dass Schüler durch die in der Corona-Krise entstandenen Lernverluste drei Prozent an Lebenseinkommen verlieren werden. Ein Durchschnittswert, Schüler mit viel Bildungsunterstützung von zu Hause belaste er kaum, aber "er wird überproportional die Kinder aus den sozial schwächsten Familien treffen", sagt Schleicher. Vor allem die zehn Prozent am unteren Ende des Leistungsspektrums - "und genau die hat diese Corona-Krise am meisten getroffen".

Die Datenbasis für die düstere Vorhersage liefert das 2011 und 2012 durchgeführte sogenannte Erwachsenen-PISA der OECD. Der Bildungsökonom Ludger Wößmann vom Ifo-Institut hatte bereits im Juni mit diesen Daten eine ähnliche Prognose errechnet. In absoluten Zahlen ausgedrückt, verringert sich laut Wößmann das Lebenseinkommen je nach Berufsqualifikation um durchschnittlich 13 500 bis 30 000 Euro.

Aus Frankfurt nimmt die Makroökonomin Nicola Fuchs-Schündeln an der Videorunde teil. Sie sagt auf anderer Datengrundlage und modellbasiert etwas geringere Einkommensdefizite bei coronabedingt weniger gebildeten Menschen voraus, die Rede ist von einem Prozent. Wichtiger ist der Professorin der Goethe-Universität allerdings die Botschaft, "dass die Effekte nicht linear sind: Wenn die Schulschließungen länger andauern, dann steigen die Effekte überproportional". Das liege daran, dass die wirtschaftlich verwertbaren Fähigkeiten und Kenntnisse aufeinander aufbauen. Lücken seien schwer nachträglich zu schließen, grundlegende Bildungsdefizite bei jüngeren Kindern besonders gravierend. "Aus wirtschaftlicher Perspektive ist ganz klar, die Priorität sollte sein, die Schulen so weit wie möglich offen zu lassen", sagt Fuchs-Schündeln.

Vor Schulschließungen warnt auch die Bildungssoziologin Jutta Allmendinger eindringlich. "Das treibt mich am allermeisten um, dass wir zu wenig gelernt haben aus den letzten sieben, acht Monaten", sagt die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) in dem Videocall. Zu wenig gelernt "für eine Phase, die wir ja für immer wahrscheinlicher erachten, nämlich eine zweite Phase des Lockdowns".

Allmendinger erinnert an den Schaden, den Kinder in der Pandemie unmittelbar nehmen: "Viele Studien sind noch im Feld, aber wir wissen jetzt schon um gesundheitliche Auswirkungen." Gewichtszunahme etwa. Kitas und Schulen legten zunehmend Wert auf gesundes Essen, aber in der Krise würden sich Kinder eben oft eine Pizza in den Ofen schieben. Sind Schulen zu, fehlten der Schulweg, der Schulsport, aber auch das Lernen von Selbstwert und Solidarität, der Abbau von Stereotypen in der Gemeinschaft, zudem gebe es zu Hause mehr häusliche Gewalt.

Der Schulbetrieb nach den Öffnungen im Sommer und die Kompensationsangebote für abgehängte Kinder haben Allmendinger jedenfalls nicht davon überzeugt, Herbst und Winter gelassen entgegenzusehen. "Das hatte nicht den Nachdruck, nicht die Reichweite und nicht das aufsuchende Moment, um die besonders betroffenen Kinder aktiv wieder in den Unterricht zu holen", kritisiert die Soziologin.

Digitales Lernen hat soziale Unterschiede vergrößert

Auch über den Nutzen des digitalen Unterrichts auf Distanz diskutieren die Experten - und sind sich einig. Nicht die neue Technik könne Bildungsungerechtigkeiten ausgleichen, sondern eine neue, viel stärker individualisierende Pädagogik, die sich der Technik klug bedient. So weit sei man hier aber noch lange nicht. "Auf Deutschland trifft leider sehr zu, dass der Einsatz von Technologie während der Pandemie soziale Unterschiede noch mal deutlich vergrößert hat", sagt Schleicher.

Auch deshalb ist die Priorität in der Runde so klar: Schulen mit vernünftigen Hygienekonzepten, für die genug Geld da ist. "Natürlich wird es Ausbrüche geben, müssen wir Schulen überwachen und Testabstriche auch bei Kindern machen", sagt Johannes Hübner. Aber die Schultore wieder schließen? Hotels und Kulturstätten könne man mit Geld retten, sagt der Kinderinfektiologe. "Aber die Kinder und die Bildung kann man nicht retten."

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Quelle:
SZ vom 26.10.2020
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