Süddeutsche Zeitung

Studie zu Kindern und Jugendlichen:Nehmt uns endlich ernst!

Lesezeit: 3 min

Wie geht es jungen Menschen in Deutschland? Sie wünschen sich Vertrauen und Sicherheit, zeigt eine Studie, doch sie erleben häufig Mobbing und Gewalt. Vor allem aber wollen sie gefragt werden, wenn sie etwas betrifft.

Von Susanne Klein, München

Wer wirklich wissen will, was Kinder bewegt und wie es ihnen geht, sollte sie fragen - und dann gut zuhören, was sie sagen. Forscher der Frankfurter Goethe-Universität haben das im vergangenen Schuljahr getan: Sie sprachen nicht mit Eltern, nicht mit Lehrern, Psychologen oder Politikern, sondern sie befragten die Kinder selbst. Dabei fanden sie zum Beispiel heraus, dass 60 Prozent aller Achtjährigen kein Handy haben - und jeder Zweite das sogar völlig in Ordnung findet. Oder dass die Hälfte aller Zehn- und Zwölfjährigen in jüngster Zeit von Mitschülern geschlagen wurde, viele von ihnen mehrfach. Oder dass jedes sechste Kind sich oft oder ständig Sorgen darum macht, wie viel Geld seine Familie hat - und dass diese Kinder in der Schule besonders häufig gehänselt, ausgegrenzt und "absichtlich gehauen" werden.

Es sind teils erstaunliche, teils ernüchternde Auskünfte, die die Universität im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung bei fast 3450 Schülern in sieben Bundesländern eingeholt hat. Erstaunliche, weil die Acht- bis 14-Jährigen in den Befragungen und Gruppendiskussionen eben kein abgehobenes "Wunschkonzert" voller Gummibärchen und Smartphones anstimmten - obwohl nach ihrer Aussage viele Erwachsene genau das von ihnen erwarten. Die Bedürfnisse der Heranwachsenden nach Dingen, Zuwendung und Schutz folgen vielmehr den "Vorstellungen einer durchschnittlichen Kindheit und Jugend", wie die Forscher in ihrer am Mittwoch veröffentlichten Studie schreiben. Ein ruhiger Platz zum Lernen ist beispielsweise wichtig, Eltern und Freunde, denen man vertrauen kann, das Gefühl, dazuzugehören.

Ernüchtern müssen hingegen die Antworten der Kinder auf Fragen nach Gewalt und Sicherheit. Jeder fünfte Grundschüler und Gymnasiast und jeder dritte Gesamtschüler fühlt sich an seiner Schule unsicher. "Die Politik ist hier gefordert, Kinder und Jugendliche besser zu schützen", sagt Stiftungsvorstand Jörg Dräger.

Das verlangt auch Sascha Stahn. Der Wuppertaler hat gerade Abitur gemacht und gehört zu einem 17-köpfigen Expertenteam aus Kindern und Jugendlichen, das die Bertelsmann-Stiftung seit Herbst 2017 berät. "Wir denken neu darüber nach, wie man die Bedingungen für Kinder in der Familie und in der Bildung verbessern kann", sagt Stahn, "und zwar, indem man die Bedürfnisse von Kindern her betrachtet und nicht immer nur von Erwachsenen herab auf Kinder". Einen Austausch auf Augenhöhe wünschen sich die jungen Experten deshalb nicht nur von Wissenschaftlern: "Wir wollen, dass auch die Politik uns zuhört und auf unsere Bedürfnisse eingeht."

Das erinnert an Forderungen, die bei den "Fridays for Future" laut werden, geht für Stahn jedoch darüber hinaus. Die Massen der klimastreikenden Schüler könnten Politiker zwar nicht mehr überhören, aber "strukturell" habe sich noch nichts geändert. "Man muss viel früher mit Kindern und Jugendlichen reden", sagt der 19-Jährige, der sich im Wuppertaler Jugendrat dafür einsetzt, dass die Interessen und Ideen von Minderjährigen in der Stadt berücksichtigt werden.

Den Wunsch nach stärkerer Beteiligung macht auch die Studie sichtbar: Heranwachsende wollen in Lebensbereichen, die sie angehen, mehr als bisher zu sagen haben. Zwar fühlen sie sich zu Hause und in der Schule mit ihren Ansichten überwiegend gehört und ernst genommen. Aber ihren tatsächlichen Einfluss auf sie betreffende Entscheidungen schätzen sie deutlich weniger positiv ein. Besonders in der Schule haben viele den Eindruck, nicht oder wenig mitentscheiden zu können.

Zwölf oder 13 Schuljahre? Das wurde einfach über die Köpfe der Schüler hinweg entschieden

Die Studienleiterin Sabine Andresen findet diesen Befund "markant". Schulen rät die Frankfurter Erziehungswissenschaftlerin, stärker nach Mitbestimmungsmöglichkeiten für Schüler zu suchen. An die Politik adressiert sie die Forderung, die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen regelmäßig und genau zu erheben. "Politiker nehmen Bedarfe in der Bevölkerung oft erst wahr, wenn ihnen dazu Daten vorliegen", sagt die Professorin. Die Entscheidungen zu G8/G9 etwa hätten Schüler massiv betroffen, seien aber nach deren Wahrnehmung über sie hinweg getroffen worden.

Das Jugend-Expertenteam merkt in seiner Begleitbroschüre zur Studie dazu an: "Bestimmen Schüler*innen die Farbe des Oberstufenraums mit oder werden sie gefragt, wenn die Schulzeit von 13 auf 12 Jahre verkürzt wird?" Kinder und Jugendliche müssten danach gefragt werden, wo sie sich beteiligen wollen und wie diese Beteiligung aussehen soll, fordert das Team.

Außerdem sollte repräsentativ erhoben werden, "was für sie heute zum Aufwachsen dazugehört, was sie unbedingt brauchen und wann für sie Ausgrenzung und Armut oder aber auch Luxus beginnt", empfiehlt die Bertelsmann-Stiftung. Sie wirbt für eine neue, speziell auf Kinder gemünzte Sozialberichterstattung, die in politische Maßnahmen einfließt. Wer Politik vom Kind aus denke, müsse vor allem die Kinderarmut bekämpfen, betont die Stiftung. Dass Kinder aus finanzschwachen Familien geringere Bildungschancen haben und besonders oft Ausgrenzung erleben, offenbare die Mängel sozialer Hilfen.

Sascha Stahn gefällt der Vorschlag, gezielter als bisher herauszufinden, welche Ausgaben für Kinder anfallen. Und zwar nicht nur für Bekleidung, Schuhe und Nachhilfe, sondern zum Beispiel auch für Dinge wie einen eigenen Schreibtisch oder einen Drucker - damit man das vorbereitete Referat auch ausdrucken kann.

Fast jeder Zweite in Stahns Expertenteam besitzt Erfahrungen mit Armut, sagt der junge Mann. Auch er selbst. Als Sohn einer Mutter, die Hartz IV bezogen hat, habe ihm der Zuschuss von jährlich 100 Euro für Schulmaterialien "vorn und hinten nicht gereicht", berichtet er. "Ich interessiere mich für Politik, also lese ich politische Bücher, aber für so etwas ist kein Geld vorgesehen." Manchmal fehlte auch das Geld, um mit Freunden ins Kino zu gehen. "Schüler wie ich sind nicht gut genug versorgt, um überall mitzumachen", sagt der junge Mann. "Es wird Zeit, dass man uns fragt, was wir eigentlich brauchen."

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Quelle:
SZ vom 04.07.2019
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