In der aktuellen Pisa-Studie gab fast jeder sechste der befragten Schüler an, regelmäßig Opfer von Ausgrenzungen und Beleidigungen zu werden. Nun hat sich ein elfjähriges Mädchen in Berlin das Leben genommen, eine mögliche Ursache soll Mobbing in der Schule sein.
Manuela Richter-Werling ist Mitgründerin von Irrsinnig Menschlich e. V. Der Verein hat sich als Ziel gesetzt, über seelische Gesundheit, Krisen und Erkrankungen aufzuklären und Vorurteile gegenüber Menschen mit seelischen Erkrankungen zu verringern. Richter-Werling organisiert unter anderem Aktionstage und leistet Aufklärungsarbeit an Schulen und für Lehrkräfte.
SZ: Frau Richter-Werling, wie sollten Eltern reagieren, wenn sie den Eindruck haben, ihr Kind ist in der Schule unglücklich und hat Schwierigkeiten mit Mitschülern?
Manuela Richter-Werling: Ich würde damit anfangen, was sie keinesfalls tun sollten: dem Kind zu sagen, das werde schon wieder, es solle sich nicht so haben und sich mal zusammenreißen. Damit ist einem ausgegrenzten und womöglich von Mobbing betroffenen Kind überhaupt nicht geholfen.
Baden-Württemberg:"So Bilder zu posten, ist schon krass!"
Baden-Württemberg kämpft mit einem Pilotprojekt gegen Mobbing an Schulen. Wie sehen die Schüler das Thema? Besuch in einer neunten Klasse.
Keine Durchhalteparolen.
Genau. Stattdessen sollten Eltern zugewandt sein und interessiert Fragen stellen: "Ich habe das Gefühl, dass du in letzter Zeit nicht gerne zur Schule gehst. Woran könnte das liegen?" Für viele Kinder ist das eine große Entlastung und sie erzählen dann auch, was sie bedrückt. Manche ziehen sich natürlich zurück. Auch dann sollten Eltern dranbleiben und jederzeit signalisieren: Wir sind da und unterstützen dich! Denn ein von Mobbing betroffenes Kind wird sein Problem nicht alleine lösen können.
Können Klassenkameraden helfen?
Mobbing ist immer ein Gruppengeschehen, es kann jeden Menschen zu jeder Zeit treffen. Die Täter brauchen ein Publikum, auch deshalb kommen solche Fälle an Schulen oft lange nicht zur Sprache: Weil viele Kinder froh sind, dass es nicht sie, sondern jemand anderen getroffen hat. Für vom Mobbing Betroffene sind Schulkameraden daher oft keine große Hilfe. Das macht es für die Lehrkräfte oft schwer, einen Mobbingfall zu erkennen.
Auf welche Signale sollten Lehrende achten?
Wenn ein Kind immer in der Nähe der Lehrkräfte bleibt und zum Beispiel nicht auf den Pausenhof möchte, sondern die Pause vor dem Lehrerzimmer verbringt. Auch wenn ein Kind häufig zu spät kommt, kann das ein Signal sein, dass etwas nicht stimmt: Vielleicht wird es bereits auf dem Schulweg bedroht. Aus Sicht des Kindes wäre das Zuspätkommen dann eine sehr kluge Maßnahme, um sich zu schützen.
Was empfehlen Sie Lehrkräften, wenn sie Probleme in ihrer Klasse vermuten?
Wie Eltern auch müssen sie eines unbedingt wissen: Nur Erwachsene können Mobbingprozesse zwischen Kindern unterbrechen. Wer Tätern sagt, sie sollen sich mal zurückhalten, und Opfern, sie sollten sich zusammenreißen, wird überhaupt nichts erreichen. Mobbing ist eben ein Gruppengeschehen, dabei übernimmt jedes Kind in einer Klasse eine Rolle: Täter, Stellvertreter, Mitläufer, Zuschauer, Betroffene. Für Lehrkräfte kommt es darauf an, Zeit in ein Klassenklima zu investieren, in dem sich jeder wohlfühlt und gut lernen kann. Das ist die beste Mobbingprävention.
Und wenn es doch zu Mobbingfällen kommt?
Dann sollten Lehrkräfte auf das betroffene Kind zugehen und auch vor der Klasse klarmachen: "Hier wird niemand ausgegrenzt!" Mobbing ist kein Konflikt auf Augenhöhe wie eine Prügelei auf dem Schulhof, wo sich A und B einigermaßen gleichrangig begegnen und danach ist wieder Ruhe. Bei Mobbingprozessen geht es um Macht, und davon hat der Täter sehr viel und der Betroffene sehr wenig. Umso wichtiger ist es, dass sich ein Lehrerkollegium dem gemeinsam entgegenstellt, jede Lehrkraft in ihren Stunden Signale genau beobachtet und sich mit Kollegen austauscht. Der nächste Schritt ist eine enge Abstimmung mit den Eltern.
Wie kann die aussehen?
Ich finde es wichtig, dass nicht nur die Eltern betroffener Kinder einbezogen werden, sondern dass das Thema auch auf Elternabenden angesprochen wird. Dort sollten Schulen zeigen, was sie unternehmen, um Ausgrenzung zu verhindern, und den Eltern auch erklären, wie sie dabei unterstützen können. Ich erwarte von den Schulen beim Thema Mobbing aber noch etwas anderes.
Was denn?
Selbstkritik. Der Hauptgrund für Mobbing ist Langeweile in der Schule. Wenn nichts los ist, sorgen Kinder und Jugendliche dafür, dass sich das ändert. Heißt: Ein guter, abwechslungsreicher und auch fordernder Unterricht, gepaart mit einem angenehmen Schulklima, verhindert Mobbing. Schule ist für Wissensvermittlung zuständig, hat aber auch einen Erziehungsauftrag. Und den kann sie nur wahrnehmen, wenn Lehrkräfte sich Zeit für Beziehungsarbeit mit ihren Schülern nehmen. Davon haben sie leider oft zu wenig - das muss sich dringend ändern.
Trifft Schulen und Lehrkräfte eine Mitschuld, wenn es in Klassen zu Mobbing kommt?
So würde ich das nicht formulieren. Ich würde sagen, die Schule ist neben dem Elternhaus der wichtigste Schutzraum im Leben eines Kindes. Und deshalb muss dort ständig hinterfragt werden, welche emotionalen Kompetenzen die Lehrkräfte von heute brauchen. Die müssen ihnen in Fortbildungen regelmäßig vermittelt werden. Es wird immer Kinder geben, denen es aus verschiedenen Gründen nicht gut geht. Sie zu beschützen und zugleich zu einem Abschluss zu führen, ist die wichtigste Aufgabe der Schulen.