Schule:Lehrer in zehn Tagen

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Um Unterrichtsausfall zu verhindern, unterrichten mancherorts Menschen ohne Lehramtsstudium. (Foto: Caroline Seidel/dpa)

In Deutschland herrscht Lehrermangel, manche Länder setzen in ihrer Not auf Seiteneinsteiger. Der Unterricht wird dadurch nicht besser, wie ein Beispiel aus Sachsen zeigt.

Von Paul Munzinger

Bevor Felix Oevermann das erste Mal vor einer Klasse stand, besuchte er einen Vorbereitungskurs. Das Seminar dauerte drei Tage, und am Ende entließ der Dozent die Teilnehmer mit diesen Worten: "Die nächsten drei Monate geht es nur ums Überleben. Sie werden keine Freizeit haben und bis ans Ende Ihrer Kraft gehen müssen. Dann wird es besser." Genauso war es, sagt Oevermann.

Der heute 35-Jährige ist im März 2016 als Seiteneinsteiger in den sächsischen Schuldienst gekommen. Nach dem Crashkurs lief er eine Woche als Hospitant an der Carl-Friedrich-Gauß-Oberschule in Pirna mit, dann begann er zu unterrichten, Deutsch und Kunst. Oevermann hat studiert, Germanistik und Kunstgeschichte, aber nicht auf Lehramt. Von Pädagogik und Didaktik, von den Dingen, die den Fachlehrer vom Fachgelehrten unterscheiden, hatte er wenig Ahnung. Wie vermittele ich mein Wissen? Wie gebe ich gerechte Noten? Wie behalte ich den Überblick? "Alles, was schiefgehen kann, ist am Anfang schiefgegangen", sagt Oevermann. Das Referendariat begann erst Monate später, im August: einmal die Woche ins Seminar, sonst Unterrichten in der Schule, über ein Jahr. "Das hat mir sehr geholfen", sagt Oevermann.

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Sachsen gewinnt seit Jahren alle innerdeutschen Bildungsvergleiche. Doch der Freistaat führt noch eine andere, weniger ehrenvolle Statistik an. Mehr als die Hälfte der zum neuen Schuljahr eingestellten Lehrer sind Seiteneinsteiger, so viele wie in keinem anderen Bundesland. Nur Berlin weist mit 41 Prozent einen ähnlich hohen Wert auf. Andere Länder wie Baden-Württemberg, Hessen oder Thüringen sehen den Seiteneinstieg bei allgemeinbildenden Schulen gar nicht vor, nur bei den ohnehin praxisnahen berufsbildenden Schulen.

Der Berufsverband sieht in der Entwicklung einen "abrupten Qualitätsabfall"

Wie konnte es so weit kommen? Das sächsische Bildungsministerium verweist auf die Schülerzahlen, die stärker gestiegen seien als erwartet, auch durch die Ankunft Tausender Flüchtlinge in den vergangenen beiden Jahren. Hinzu kommen Ursachen, die für die neuen Bundesländer im Allgemeinen gelten und für Sachsen im Speziellen.

Wegen des Geburtenknicks nach der Wende wurden kaum noch junge Lehrer eingestellt oder ausgebildet. Die Folge: Der Altersschnitt der Lehrer in Sachsen ist hoch, in den kommenden zehn Jahren wird jeder zweite in Rente gehen. Die Politik hat auf das Nachwuchsproblem erst 2012 mit mehr Studienplätzen für Pädagogen reagiert - zu spät, wie Bildungsministerin Brunhild Kurth (CDU) zugab. Ein Lehramtsstudium dauert inklusive Referendariat mindestens sieben Jahre. Kurth entschuldigte sich und sprach vom schwierigsten Schuljahr seit der Wende.

Vorerst geht also nichts ohne Seiteneinsteiger wie Felix Oevermann, der nach dem Studium jobbte, ehe er sich der Familie wegen für den Lehrerberuf entschied. Seit einigen Jahren steigt die Zahl der Seiteneinsteiger unter den neuen Lehrern sprunghaft an. Noch vor drei Jahren lag ihr Anteil nur bei elf Prozent, inzwischen sind es 52 Prozent. Immerhin: Der kurze Crashkurs, der Oevermann noch als Basis für die ersten Monate dienen musste, wurde mittlerweile auf drei Monate erweitert. Danach geht es zunächst an die Schule, dann soll schnell eine Weiterqualifizierung folgen, berufsbegleitend an der Uni oder in Form eines Referendariats. Voraussetzung ist in der Regel ein abgeschlossenes Studium.

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Die Sorgen um die Folgen aber bleiben. "Für Sachsen bedeutet diese Entwicklung einen abrupten Qualitätsabfall", sagt Michael Jung, stellvertretender Vorsitzender des sächsischen Lehrerverbandes. Er wolle nicht pauschal über die neuen Lehrer urteilen, es gebe Überforderte ebenso, wie es Naturtalente gebe. Und ohne sie gehe es nun mal nicht. Doch den Seiteneinsteigern bleibe für Pädagogik und Didaktik im Vorbereitungsdienst zu wenig Zeit. Und nicht wenige müssten nach der kurzen Einführung ein oder sogar zwei Jahre "weiter schwimmen", weil sie keine Plätze in den Qualifizierungsmaßnahmen bekämen; das Ministerium weist dies zurück.

Für die etablierten Lehrer seien die Neulinge Entlastung und Belastung zugleich, sagt Jung. Neben dem Unterricht unter häufig prekären Bedingungen würden die Lehrer zusätzlich als Mentoren eingespannt - für neue Kollegen, die im Schnelldurchlauf eine Ausbildung absolvieren, in die sie selbst Jahre an der Uni investiert haben.

Felix Oevermann lobt die Unterstützung durch seine Kollegen ausdrücklich. Er lobt die Ausbildung und betont, wie sehr er sich freue über die persönliche Chance, die ihm der Seiteneinstieg biete. Oevermann will nicht undankbar wirken. Aber er will auch nicht so tun, als sei alles gut; das liegt nicht nur daran, dass er damals keinen Mentor an seiner Seite hatte. "Ich habe nie gedacht, dass es leicht wird", sagt er. "Aber was ich vermisst habe, ist die Fairness vonseiten der Politik." Um die schlimmsten Brandherde zu löschen, seien Leute wie er ins kalte Wasser geschmissen worden. "Entweder man geht unter - oder man kriegt es hin." Elf Prozent der Seiteneinsteiger haben im vergangenen Schuljahr hingeschmissen.

Oevermann ist seit August Ein-Fach-Lehrer für Deutsch, sein Kunstgeschichtsstudium wurde nicht anerkannt. Nun will er noch Mathematik studieren, berufsbegleitend. Mathelehrer werden immer gebraucht. Das Studium beginnt erst im Oktober, aber Mathe-Unterricht gibt Oevermann schon jetzt. Es gibt sonst niemanden.

© SZ vom 15.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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