Schule:"Jungen fühlen sich als Buhmänner"

Schule: Am Mariengymnasium in Essen werden Jungen und Mädchen getrennt unterrichtet - und anders: Mädchen machen mehr Stillarbeit - Jungen bekommen mehr Frontalunterricht.

Am Mariengymnasium in Essen werden Jungen und Mädchen getrennt unterrichtet - und anders: Mädchen machen mehr Stillarbeit - Jungen bekommen mehr Frontalunterricht.

(Foto: Illustration Jessy Asmus)

An einem Gymnasium in Essen werden Schüler und Schülerinnen getrennt unterrichtet. Das soll vor allem den Jungen gerecht werden, ist aber umstritten.

Von Nadja Lissok, Essen

Wenn Louis am Schultor auf Karlotta, Lilly oder Sylvana trifft, trennen sich ihre Wege schnell wieder. Denn am Essener Mariengymnasium werden Jungen und Mädchen von der fünften bis zur neunten Klasse getrennt unterrichtet. Das klingt altmodisch - ist hier aber noch ziemlich neu. Das ehemalige Mädchengymnasium in Trägerschaft des Bistums nahm 2011 erstmals Jungen auf und will insbesondere den neuen "Bildungsverlierern" mit der sogenannten parallelen Monoedukation gerecht werden.

Die Ergebnisse von Pisa und anderen Untersuchungen in den vergangenen Jahren haben gezeigt: Jungen haben schlechtere Noten und brechen häufiger die Schule ab als Mädchen in Deutschland. Dabei galten hierzulande seit den Siebzigerjahren eigentlich die Schülerinnen als benachteiligt. Mit Technikkursen und dem "Girls'Day" sollen sie die Chance bekommen, aufzuholen. Nun haben sie die Jungen offenbar abgehängt.

Wissenschaftliche Studien zur Jungen- und Mädchenbildung sind rar und widersprüchlich. Lehrer und Schulleitung in Essen verlassen sich deshalb auf ihre Beobachtungen. Und die besagen: Ruhig auf dem Stuhl sitzen, Ordnung halten und selbständig lernen fällt Mädchen leichter - und kommt bei Lehrern gut an.

"Mädchen sind ordentlicher, haben die schönere Schrift und sind körperlich und geistig schon weiter entwickelt, wenn sie zu uns kommen", sagt die Leiterin des Gymnasiums, Christiane Schmidt. "Die Jungen leiden unter den angepassten, lieben Mädchen und fühlen sich als Buhmänner. Sie sind in einer gemischten Klasse immer diejenigen, die Dreck machen und laut sind." Möglicherweise werden sie im direkten Vergleich auch deshalb schlechter bewertet.

Hinter der Klassentür der 5d wird durcheinandergeredet. Louis und seine Mitschüler stehen in Grüppchen zusammen - und vergleichen ihre Rechenergebnisse. Weil Jungen ungern lange still sitzen, dürfen sie im Unterricht hin und wieder aufstehen. Schüler und Schülerinnen getrennt unterrichten, das heißt am Mariengymnasium nämlich auch, sie anders zu unterrichten. Zum Beispiel mit mehr Frontalunterricht, weniger Stillarbeitsphasen und konsequenterem Durchgreifen bei den Jungen. "Jungen sind robuster und fordern klare Ansagen. Sie wollen vor allem gerecht behandelt werden", sagt Schmidt. "Wer aus der Reihe tanzt, soll auch bestraft werden."

Stille Mädchen bekommen mehr Beachtung

Karlotta und ihre Klassenkameradinnen haben ein paar Zimmer weiter Kunstunterricht. Kaum ist der Raum aufgeschlossen, vertiefen sich die Fünftklässlerinnen in ihre Aufgabe: Monster malen. Lehrerin Ilona Kesper muss nur beraten, wenn eine nicht weiß, ob das Monster an einem Schnuller oder Eis lutschen soll.

"In einer gemischten Klasse dominieren oft ein paar anstrengende Jungs den Unterricht", sagt Kesper, die Erfahrungen in gemischten und getrennten Klassen gesammelt hat. "Darunter leidet der Rest der Klasse und vor allem die stillen Mädchen, denen ich dann nicht gerecht werden kann." Karlotta sieht das ähnlich, Jungen würden im Kunstunterricht nur stören: "Wir können als Thema 'Einhorn' vorschlagen, ohne dass die Jungs sich vernachlässigt fühlen", sagt die Elfjährige.

Werden Stereotype gefördert oder abgebaut?

Tatsächlich wird mit geschlechtertypischen Themen versucht, Interesse in verschiedenen Fächern zu wecken. Geschichten über Autos und Fußball beispielsweise sollen mehr Jungen zum Lesen anregen. Pädagogen beschäftigt schon lange die Frage, wie das gelingen kann. Auch in der Pisa-Studie 2015 erzielten Neuntklässlerinnen beim Lesen deutlich mehr Punkte als ihre Mitschüler und haben ihnen damit auch in vielen anderen Fächern etwas voraus.

Vieles falle den Jungen auch leichter, wenn keine Mädchen dabei seien, sagt Schmidt: "Interpretieren Sie mal Liebesgedichte in einer gemischten Klasse - da ist viel Gekicher." Seien die Jungen unter sich, strengten sie sich mehr an und hätten mehr Spaß, sagt die Schulleiterin.

Schulpädagoge Jürgen Budde, der an der Universität Flensburg zum Umgang mit Heterogenität in Erziehungs- und Bildungsprozessen forscht, sieht nach Geschlechtern getrennten und differenzierten Unterricht dennoch kritisch. "Durch getrennten Unterricht werden die Gruppen homogenisiert und Differenzen verstärkt", sagt Budde. Dabei sei es doch heute Konsens, dass jeder Junge und jedes Mädchen anders sei. "Wenn die Jungen im Unterricht mehr Bewegungsangebote erhalten, wieso werden die Mädchen nicht auch dazu ermutigt?", stellt Budde das Prinzip in Frage.

Die Befürworter der Monoedukation hingegen sehen in der Geschlechtertrennung sogar eine Chance, Stereotype abzulegen. Denn wenn nur Mädchen im Chemieunterricht experimentieren, können die Jungen ihnen den Bunsenbrenner nicht abnehmen. Am Mariengymnasium sollen als "frauentypisch" deklarierte Fächer wie Deutsch und Religion zudem von Männern unterrichtet werden, die Männerdomänen Mathe und Physik von Frauen.

Bessere Leistungen sind schwer belegbar

Von den etwa 6000 Schulen in Nordrhein-Westfalen sind 29 Mädchen- beziehungsweise Jungenschulen. Schulen, die temporär getrennt unterrichten, werden vom NRW-Schulministerium nicht erfasst. Aber es gibt viele verschiedene Ansätze. Einige Schulen trennen Mädchen und Jungen nur für den Sport oder in den Naturwissenschaften. Die parallele Monoedukation in allen Fächern bis zur Oberstufe - wie in Essen - ist selten.

Ob der geschlechtergetrennte Unterricht letztlich zu besseren Noten führt, ist schwer ergründbar. Das zeigt eine Untersuchung des Berlin-Instituts für Bevölkerung, die Ergebnisse verschiedener Studien miteinander vergleicht. Eine neuseeländische Studie weist beispielsweise höhere Lernerfolge bei Jungen aus monoedukativen Schulen nach. Doch Kritiker entkräften die Resultate: Schulen mit diesem Konzept befinden sich meist in kirchlicher oder privater Trägerschaft. Diese zögen Schüler aus einem bildungsbürgerlichen Umfeld an, die generell bessere Noten und höhere Bildungsabschlüsse erzielten. Diese Selbstselektion könnte also auch für das Mariengymnasium zutreffen, obwohl dieses grundsätzlich allen Kindern und Konfessionen offen steht.

Louis und Karlotta sind jedenfalls zufrieden mit ihrem Schulsystem. In der Grundschule hätten die Mädchen immer gewollt, dass die Jungen ruhig sind, erinnert sich der Fünftklässler: "So etwas nervt." Und Karlotta sieht es pragmatisch: "Wir spielen sowieso nicht zusammen", sagt die Elfjährige. Bis die beiden in der zehnten Klasse zusammen unterrichtet werden, müssen sie lediglich gemeinsam auf Klassenfahrt gehen und einen Schulhof teilen. Vielleicht entdecken sie dabei aber auch, dass es wichtigere Dinge gibt, als Einhörner zu malen - und Liebesgedichte erst beim gemeinsamen Interpretieren richtig spannend werden.

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