Mit dem Schulsystem in Deutschland, sagt Carsten Piechnik, ist es wie mit der Anordnung der Buchstaben auf einer Tastatur. Die wurde einst für Schreibmaschinen entworfen und sollte einen Zweck erfüllen: dass sich die Hebel nicht ins Gehege kommen, wenn sie die Farbe aufs Papier hämmern. Dieser Zweck hat sich längst erübrigt, die Ordnung hat keinen Sinn mehr. Und doch sieht die Tastatur auch heute noch so aus wie zu Zeiten der Schreibmaschine. Weil es leichter ist, sagt Piechnik, ein schlechtes System zu erhalten, als es zum Guten zu verändern.
Carsten Piechnik hat sich entschieden, es trotzdem zu versuchen.
Piechnik unterrichtet Biologie und Pädagogik an der Erich-Fried-Gesamtschule in Herne, mitten im Ruhrgebiet. Der 49-Jährige ist ein jugendlicher Typ, im linken Ohr steckt ein Ohrring, sein T-Shirt ziert ein gewagtes Palmenmuster. Dem Besucher bietet Piechnik das Du an, noch ehe "die Macchiato" fertig ist. Redet er von seinen Schülern, sagt er "Kiddies". Dass Piechnik von der Schülervertretung seit Jahren zum SV-Lehrer gewählt wird, als Kontakt ins Lehrerzimmer, verwundert nicht.
Als SV-Lehrer war Piechnik auch dabei, als an seiner Schule vor drei Jahren eine unerhörte Idee geboren wurde. Im Sommer 2015 musste die Schule eine Anordnung von oben umsetzen, die mehr Unterricht einforderte und so den Stundenplan sprengte. Die Alternativen waren unschön. Die Schüler in der nullten Stunde antanzen lassen? Die Mittagspause streichen? Samstagsunterricht? Weichen musste am Ende die Mittagspause, dazu wurde die 10. und 11. Stunde eingeführt, die Schule also noch weiter in den Nachmittag ausgedehnt.
Und die Schüler? Begannen Fragen zu stellen. Warum es für sie eigentlich keine Arbeitszeitregelungen gebe. Wie es sein könne, dass ein Schüler vor zehn Jahren im Schnitt 25 Schulstunden pro Woche hatte und heute 34. Warum die Oberstufenschüler eigentlich keine Zeit mehr hätten, sich in der Schülervertretung zu engagieren. Warum in Tests wie Pisa und Co. ständig ihre Leistung erhoben werde, aber niemand frage, wie es ihnen geht, in der Schule, im Leben.
Also starteten Piechnik und seine Schüler selbst eine Umfrage. Sie richtete sich an Schüler in ganz NRW, mit 24 Fragen: Fühlt ihr euch von der Schule belastet? Was verbindet ihr mit Schule? Habt ihr Zeit für Hobbys? Seid ihr glücklich? Seit 2016 läuft die Umfrage, die jüngste Auswertung stammt aus dem Herbst 2017, sie basiert auf den Antworten von 1250 Schülern aus NRW - mehr also, sagt Piechnik, als bei Pisa. Die Ergebnisse hätten die schlimmsten Erwartungen übertroffen. 70 Prozent fühlen sich demnach belastet, 80 Prozent verbinden mit der Schule Stress, drei Viertel Druck, mehr als die Hälfte Überforderung. Freude, Glück, Ausgelassenheit? 20 Prozent, neun Prozent, vier Prozent.
"Sollte Bildung nicht viel breiter sein?", fragt Piechnik
Doch nicht nur Schüler wurden befragt. Piechnik und seine Schüler schickten Fragebögen auch an Vereine, die von einem Rückgang jugendlicher Mitglieder berichteten. Fast 90 Prozent beklagten einen Rückgang sozialer Kompetenzen bei den Jugendlichen. Alle meldeten, dass mehr Jugendliche über Angst und Druck in der Schule berichteten. Auch medizinische Beratungsstellen wurden angeschrieben. Die Ergebnisse: Schulisch bedingte Belastungssymptome hätten deutlich zugenommen: Erschöpfung, Depression, Schlaflosigkeit. Acht von zehn Einrichtungen empfahlen, den schulischen Druck zu senken.
Piechnik weiß, dass die Umfrage Schwächen hat. Keiner kann sagen, ob nur Schüler abgestimmt haben; die Umfrage ist online, jeder kann teilnehmen. Und doch summieren sich die Antworten für ihn zu einem Gesamtbild, das zeige, wie weit die Schule sich von ihrem Auftrag entfernt habe. Alles sei auf Leistung zugeschnitten, nur sie werde mit großem Aufwand gemessen; eine Lernstandserhebung in Deutsch in der 8. Klasse etwa umfasse 150 Seiten. Den Tests aber gehe es nicht um ein ganzheitliches Bild. Pisa etwa interessiere sich nur für drei Bereiche: Deutsch, Mathe, Naturwissenschaften. "Sollte Bildung nicht viel breiter sein?", fragt Piechnik.