Schulkinder in Berlin lernen antisemitische Schimpfwörter. Sächsische Berufsschüler schmieren Hakenkreuze an die Wände der Schulgebäude. Immer mehr Wähler in ganz Deutschland geben ihre Stimme einer nationalistischen Partei. Angesichts dieser Entwicklungen sorgen sich viele um die gesellschaftlichen Werte. Wie kann gewährleistet werden, dass Kinder lernen, tolerant zu sein, Menschenrechte zu achten und Konflikte friedlich zu lösen? Wer muss sich darum kümmern? Und welche Werte sollten Priorität haben?
Diese Fragen haben Wissenschaftler der Uni Tübingen und Mitarbeiter des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) mehr als 1100 Eltern und fast 1200 Lehrern gestellt. Die wichtigste Rolle bei der Vermittlung von Werten kommt demnach der Familie zu. Für mehr als 80 Prozent der Eltern und Lehrer ist aber auch die Schule dabei wichtig oder sehr wichtig. Es ist eine von vielen Erwartungen, die heute an Schulen gestellt werden. Aber sie ist berechtigter und begründeter denn je.
Die Umgebung, in der Kinder aufwachsen und ihr Wertesystem entwickeln, hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert. Und das hat Folgen. Der Sozial- und Organisationspsychologe Dieter Frey von der Ludwig-Maximilians-Universität München hat darüber geforscht, wie Einstellungen und Wertesysteme entstehen und sich verändern. Er sagt: "Für die Erziehung eines Kindes bedarf es eines ganzen Dorfes". Man kann sich dieses Dorf bildlich vorstellen: Bauernhöfe, auf denen die ganze Familie wohnt, Nachbarskinder, die auf der Straße spielen, eine Kirche in der Mitte des Dorfes, daneben die Grundschule, die Feuerwehr, der Sportplatz. Außer der Schule ist in der Lebenswelt vieler Kinder heute davon nicht viel erhalten.
Das hat nicht nur, aber auch mit den Ganztagsschulen und der zunehmenden Erwerbstätigkeit der Mütter zu tun. "Meines Erachtens muss die Schule Defizite aus dem Elternhaus ausgleichen, weil Eltern oft selbst keine Werte vermitteln, sich zu wenig Zeit nehmen oder tatsächlich keine haben", sagt Dieter Frey.
Immer weniger Kinder gehen zum Kommunionsunterricht
Statt auf der Straße spielen Kinder am Computer. Die Jugendfeuerwehren klagen über Nachwuchssorgen, viele Sportvereine auch. Jugendliche trainieren heute häufig lieber im Fitnessstudio als Judo zu machen, Handball zu spielen oder um die Wette zu schwimmen. Die katholische Kirche zählte 2017 etwas mehr als 187 000 Kommunionkinder, 15 Jahre zuvor waren es noch über 100 000 mehr. Die evangelische Kirche berichtet von einem ähnlichen Schwund an Jugendlichen bei der Konfirmation. Nur gut ein Drittel der Eltern sind laut der VBE-Studie der Meinung, dass Religionsgemeinschaften noch eine wichtige Rolle bei der Vermittlung von Werten zukommt. Die entstehende Lücke ist groß.
"In Sportvereinen, im Kommunionsunterricht, bei der Feuerwehr sind Werte vermittelt worden - und zwar durch praktisches Handeln", sagt Dieter Frey: "Die Leute mussten im Sportverein und bei der Feuerwehr Initiative zeigen, es gab Konflikte, die gelöst werden mussten, und wichtig war für das alles so etwas wie Solidarität. Im Kommunionsunterricht hätten sich Kinder mit ethischen Fragen auseinandergesetzt, aber auch mit Fragen der Selbstidentität, sagt der Psychologe. "Es war immer die Chance, innezuhalten und zu reflektieren: Wer bin ich, wer will ich sein, wo komme ich her, wo gehe ich hin? Das ist ein wichtiger Teil der Persönlichkeitsentwicklung."
Wer soll nun die Kinder lehren? Fast alle Eltern und Lehrer sagen: noch immer die Familie. Große Erwartungen liegen aber auch auf den Schulen.
Lang ist die Liste der Werte, die Eltern und Lehrer heute als wichtige Erziehungsziele der Schule betrachten. Und die Erwartungen der Lehrer an sich selbst sind sogar noch höher als die der Mütter und Väter. So sagen fast alle Lehrer, dass eigenverantwortliches Handeln, den Erwerb sozialer Kompetenzen und von Konfliktfähigkeit, die Achtung der Menschenrechte und das Einüben von Toleranz aus ihrer Sicht wichtige oder sehr wichtige Bildungs- und Erziehungsziele in der Schule sind. In der Gruppe der Eltern erachten die meisten das eigenverantwortliche Handeln für wichtig, nachfolgend die Förderung selbständigen Lernens und den Erwerb sozialer Kompetenzen. Auffällig ist, dass deutlich mehr Lehrer als Eltern die Anerkennung der kulturellen Vielfalt als wichtig oder sehr wichtig einstufen (70 Prozent zu 89 Prozent).
Erfüllt werden diese Erwartungen aber nicht. Nur über wenige Ziele sagt eine Mehrheit der Befragten, dass die Schule sie erreicht. So sehen nur 45 Prozent der Lehrer, dass sie die Schüler zu eigenverantwortlichem Handeln und selbständigem Lernen erziehen - die wichtigsten Ziele der Eltern. Die größte Zustimmung bekommt von den Pädagogen die Frage, ob die Gleichberechtigung der Geschlechter in der Schule erreicht ist. Allerdings haben daran noch ein Drittel der Lehrer Zweifel.
Für keines der abgefragten Erziehungsziele bescheinigen mindestens 60 Prozent der Eltern den Schulen Erfolg. Nur 46 Prozent finden, dass es der Schule gelingt, die Persönlichkeitsentwicklung zu fördern. Und nur ein Drittel stimmt zu, dass die Schule das Ziel erreicht, Schüler auf das zukünftige Leben vorzubereiten. Mehr als jedes zehnte Elternteil ist sogar der Meinung, dies gelinge der Schule nicht oder überhaupt nicht. Am kritischsten: die Eltern von Jugendlichen ab 16 Jahren und diejenigen, deren Kinder auf ein Gymnasium gehen.
Nadine Brech ist Zwölftklässlerin eines Münchner Gymnasiums. Auch sie sagt: "Ich fühle mich wahnsinnig schlecht auf das Leben vorbereitet." Sie habe bisher nicht gelernt, wie man sich auf einen Studienplatz bewirbt, eine Steuererklärung macht und warum sie überhaupt Steuern zahlen muss.
In der Studie, die der Verband Bildung und Erziehung in Auftrag gegeben hat, wurden Schüler nicht befragt. Nadine Brech kann nicht stellvertretend für sie sprechen. Aber sie engagiert sich in der Schülermitverantwortung und dafür, dass gesellschaftliche Werte an ihrer Schule gelebt werden. "Vor allem die Demokratie ist Lehrern und Schülern bei uns wichtig, es ist völlig klar, dass wir Schüler auch ein Recht haben, zur Gestaltung unserer Schule etwas zu sagen".
Worte und Verhalten passen manchmal nicht zusammen
Wie gut die Vermittlung von Werten auch im Unterricht funktioniert, das liegt aus der Sicht von Nadine Brech vor allem an den jeweiligen Lehrern: Die sagten zwar alle, dass etwa Gleichberechtigung von Frauen und Männern wichtig und selbstverständlich sei, verhielten sich dann aber nicht so. "Ich könnte mich jedes Mal aufregen, wenn ein Lehrer sagt: Ich brauche zwei starke Jungs, die mir beim Tragen helfen", sagt die Schülerin: "Da steckt ganz tief das Vorurteil drin, Männer sind stark - und nur weil ich ein Mädchen bin, kann ich trotzdem fünf Bücher tragen."
Vielleicht lässt sich anhand dieser Beobachtung zumindest teilweise erklären, warum die Wertevermittlung an Schulen nicht so gut gelingt wie erhofft. Gefragt nach den Methoden, mit denen Werte in Schule und Unterricht vermittelt werden sollten, sprechen sich die meisten Eltern und Lehrer für einen Ansatz aus, bei dem sich die Schüler anhand von verschiedenen Situationen oder durch außergewöhnliche Persönlichkeiten mit moralischem Handeln auseinandersetzen. Den Vorbildansatz, bei dem die Lehrperson selbst die Umsetzung von Werten vorlebt, halten nur um die 40 Prozent der Eltern und Lehrer für sehr sinnvoll.
Der Rat des Psychologen Dieter Frey liegt irgendwo zwischen diesen Ansätzen. Er spricht sich dafür aus, Werte im Unterricht umzusetzen. Lehrer könnten etwa in der Projektarbeit eigenverantwortliches Handeln zulassen, Konflikte ansprechen und gemeinsam mit den Schülern überlegen, wie man sie minimieren kann. "Lehrer müssten darin ausgebildet werden, wie sie insbesondere schwierige Situationen in der Schule verwenden, um zu transportieren, was es heißt, Werte zu leben", sagt Frey. "Es geht nicht darum, dass Lehrer nur Appelle machen, sondern dass die Schüler selbst im Lichte der Werte Ideen entwickeln, was die Umsetzung konkret bedeutet."