Schule:Förderschüler wider Willen

Schadenersatz-Klage eines Schülers gegen das Land NRW

Nenad Mihailovic verklagt das Land NRW auf Schadensersatz.

(Foto: dpa)
  • Der 20-jährige Nenad Mihailovic verklagt das Land NRW, weil er unfreiwillig eine Förderschule besuchen musste.
  • Kaum ein bildungspolitisches Thema wird derzeit so kontrovers diskutiert wie die Inklusion.
  • Kritiker hoffen, dass der Prozess dazu beiträgt, dass der Förderbedarf von Schülern sorgfältiger überprüft und die Förderschulen so durchlässiger werden.

Von Paul Munzinger und Jan Bielicki

Wie der Intelligenztest damals genau ablief, weiß Nenad Mihailovic nicht mehr. Er erinnert sich, dass er mit seiner Mutter dort war, die wie er nur ein paar Worte Deutsch sprach. Die Familie war gerade aus Serbien nach Deutschland gekommen, beide konnten nur Romanes, die Sprache der Roma. Und er erinnert sich an einen Mann, den er nicht verstand, der aber Handbewegungen machte, die Mihailovic zu imitieren versuchte. Er war damals, Anfang 2004, sieben Jahre alt und hatte noch nie eine Schule besucht. Der Test bescheinigte ihm einen IQ von 60. Geistig behindert. Mihailovic kam auf eine Förderschule, zunächst in Bayern, wo die Familie bis 2008 lebte, dann in Köln, wo er bis 2014 blieb. Die Zahl 60, sagt Mihailovic heute, habe ihm seine Kindheit genommen.

Mihailovic ist mittlerweile 20 Jahre alt, er macht derzeit seinen Realschulabschluss. Vor zwei Jahren hat er einen zweiten IQ-Test abgelegt. Das Ergebnis: 94, Durchschnitt. Für Mihailovic ist der Fall damit aber nicht abgeschlossen. Er hat das Land Nordrhein-Westfalen auf Schmerzensgeld sowie Schadenersatz in Höhe von fast 40 000 Euro verklagt, es ist das erste Verfahren dieser Art.

An diesem Dienstag sitzt er in Saal 126 des Kölner Justizzentrums. Er wirkt nervös, sein rechtes Bein wippt unter dem Tisch. Doch wenn er redet, lässt er sich offenbar nicht beeindrucken, nicht von den drei Richtern in schwarzen Roben, nicht von den zahlreichen Kameras und Besuchern in dem kleinen Saal. Er sei ein "normaler Mensch", antwortet Nenad Mihailovic auf eine Richterfrage mit fester Stimme, "der normal sprechen und normal denken kann". Die Anwältin Mihailovics wirft den Lehrern vor, diesen zu Unrecht als behindert eingestuft zu haben. Jahr für Jahr sei der in Bayern ermittelte Förderbedarf fortgeschrieben worden, obwohl Mihailovic bereits als 13-Jähriger um die Versetzung auf eine Regelschule gebeten, ja gebettelt habe.

Dass der Fall Mihailovic Aufmerksamkeit über Nordrhein-Westfalen hinaus erfährt, hat nicht nur mit der berührenden Geschichte des jungen Mannes zu tun. Es liegt auch daran, dass kaum ein bildungspolitisches Thema derzeit so kontrovers diskutiert wird wie die Inklusion. Grob vereinfacht geht es um die Frage, wo Schüler mit Förderbedarf, also etwa einer geistigen oder körperlichen Behinderung, besser aufgehoben sind: auf einer Regelschule, gemeinsam mit "normalen" Kindern - oder auf einer Förderschule.

2009 verpflichtete sich Deutschland mit der Unterzeichnung der UN-Konvention für Behindertenrechte, jedem Kind den Besuch einer allgemeinen Schule zu ermöglichen. Tatsächlich ist in den vergangenen Jahren viel passiert, allerdings mit ambivalenten Ergebnissen. So besucht heute zwar schon jeder dritte Förderschüler eine Regelschule, vor 15 Jahren war es nur jeder achte. Doch der Anteil der Schüler, die in Deutschland an Förderschulen unterrichtet werden, hat sich nur geringfügig verändert.

Der Grund: Immer mehr Schülern in Deutschland wird ein sonderpädagogischer Förderbedarf bescheinigt. Die Quote stieg seit dem Schuljahr 2002/03 von 5,5 auf sieben Prozent. Warum, ist umstritten. Die einen verweisen auf bessere Diagnoseverfahren, die anderen darauf, dass Förderschulen selbst ein Interesse an vermehrten Diagnosen hätten, weil sie mehr Geld erhalten, je mehr Schüler sie unterrichten.

Die Politik streitet noch immer über die Inklusion in der Bildung

Der Widerstand gegen die Inklusionspraxis an deutschen Schulen ist zuletzt immer lauter geworden. Es gebe zu wenige Räume, zu wenig Geld, die Lehrer seien überfordert, hieß es. "Inklusion ist eigentlich eine gute Sache", klagte kürzlich eine anonyme Grundschullehrerin in der FAZ, "aber nicht unter diesen Bedingungen."

Besonders scharf ist die Auseinandersetzung in Nordrhein-Westfalen. Die rot-grüne Regierung hat sich das Thema Inklusion wie kaum eine andere Landesregierung zu eigen gemacht. 2014 leitete sie als erste aus der Behindertenrechtskonvention einen Rechtsanspruch auf einen Platz an der Regelschule für jedes Kind ab. Die Opposition wiederum versucht sich im Landtagswahlkampf auch über Kritik an einer Inklusion "mit der Brechstange" (CDU-Spitzenkandidat Armin Laschet) zu profilieren.

Eva-Maria Thoms, Vorsitzende des Kölner Elternvereins "Mittendrin", verbindet mit dem Mihailovic-Prozess die Hoffnung, die Stimmung zu drehen, die in ihren Augen zuletzt zugunsten der Inklusionskritiker gekippt sei. "Mittendrin" wurde 2014 auf den Fall Mihailovic aufmerksam und vermittelte dem damals 17-Jährigen einen Platz an einem Berufskolleg; seinen Förderschwerpunkt erwähnte man nicht. Dort legte Mihailovic 2015 den einfachen Hauptschulabschluss ab, als Klassenbester.

An der Förderschule in NRW wäre dies nicht möglich gewesen. Schüler mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung sind die einzigen, die keinen Hauptschulabschluss machen können. Sie beenden die Schule mit einem Zeugnis, das ihre Lernfortschritte beschreibt. Von fast 85 000 Schülern an nordrhein-westfälischen Förderschulen wechselten im vergangenen Jahr 2326 auf eine allgemeine Schule, genau 32 von ihnen aus dem Förderbereich geistige Entwicklung. Bundesweit verließen 2014 mehr als 70 Prozent der Schüler die Förderschule ohne Hauptschulabschluss. Thoms hofft, dass der Prozess dazu beiträgt, dass der Förderbedarf von Schülern sorgfältiger überprüft und die Förderschulen so durchlässiger werden. Zudem könne der Prozess andere Schüler zu einer Klage ermutigen, die "im System festhängen" - so wie einst Mihailovic.

Dass seine Klage Erfolg haben wird, scheint nach dem ersten Prozesstag allerdings zweifelhaft. "Das wird für Sie sehr schwierig", sagt der Vorsitzende Richter Reinhold Becker. Es gelte nachzuweisen, dass die Entscheidungen der Lehrer, ihn auf der Schule zu belassen, wirklich eine Verletzung ihrer Amtspflichten gewesen seien. Zudem stelle sich die Frage der Kausalität: Wäre es Mihailovic wirklich besser ergangen, wenn die Pädagogen anders entschieden und ihn auf eine Regelschule hätten gehen lassen? Vor dem Gerichtssaal gibt Mihailovic hinterher Interviews, als hätte er schon Routine darin. Wie er den ganzen Trubel findet? "Interessant", sagt er und lächelt, "sehr interessant."

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