Schule:"Es ist unsere Aufgabe, den Schülern 'Mein Kampf' zu erklären"

Originalausgabe von "Mein Kampf"

Lehrer Ulrich Baumgärtner findet, dass "Mein Kampf" auf jeden Fall ein Thema im Geschichtsunterricht sein sollte.

(Foto: dpa)

Der Münchner Lehrer und Uni-Professor Ulrich Baumgärtner erklärt, warum Lehrkräfte Hitlers Buch thematisieren müssen - und welche Fehler dabei passieren können.

Interview von Matthias Kohlmaier

In welchem Umfang und vor allem wie sollen Schüler sich mit Hitlers "Mein Kampf" beschäftigen? Ulrich Baumgärtner, Geschichtslehrer an einem Münchner Gymnasium und außerplanmäßiger Professor für Didaktik der Geschichte an der LMU, hat sich intensiv mit dieser Frage befasst. Für die Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit hat er darüber das Heft "Mein Kampf in der historisch-politischen Bildung" geschrieben, das sich unter anderem an Lehrkräfte richtet.

SZ.de: Herr Baumgärtner, seit wann beschäftigen sich deutsche Schüler im Geschichtsunterricht mit Hitlers "Mein Kampf"?

Ulrich Baumgärtner: Der Nationalsozialismus war schon ab den frühen fünfziger Jahren Thema an den Schulen, damals natürlich noch stark unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges. Das hat sich mit der tieferen Erforschung des Nationalsozialismus über die Jahre etwas geändert. Die NS-Ideologie und damit "Mein Kampf" wurden aber eigentlich von Beginn an im Geschichtsunterricht behandelt.

Man hat offenbar schon früh erkannt, dass dieses Buch eine zentrale Rolle in der Ideologie des Dritten Reiches gespielt hat.

Richtig. Es stand zwar nicht explizit in den Lehrplänen, diese waren zu der Zeit aber sowieso viel knapper formuliert, als das heute der Fall ist.

Noch immer wird viel darüber gestritten, ob "Mein Kampf" in den Schulen überhaupt besprochen werden sollte. Was denken Sie darüber?

Wenn man den Nationalsozialismus bespricht, muss man sich zwangsläufig mit seiner zentralen Figur auseinandersetzen. Dazu gehört neben Hitlers Werdegang auch seine Weltanschauung und wie sich diese entwickelt hat. Dafür ist "Mein Kampf" ein wichtiges zeithistorisches Dokument, das den Schülern den ganzen Wahn dieses Mannes näherbringen kann, wenn Lehrkräfte es klug in den Unterricht integrieren. Und die Weltanschauung der Nationalsozialisten war auch für ihr politisches Handeln wichtig.

Es stellt sich für Sie also nicht die Frage, ob "Mein Kampf" im Unterricht besprochen wird, sondern wie?

Genau. Das Buch zu ignorieren, finde ich insbesondere falsch, als es sich ja jeder Schüler recht unproblematisch besorgen kann, spätestens seit das Urheberrecht ausgelaufen ist. Als Geschichtslehrer ist es unsere Aufgabe, den Schülern "Mein Kampf" zu erklären und aufzuzeigen, wie menschenverachtend und auch faktisch falsch die Argumente Hitlers sind.

Ist es dafür notwendig, Auszüge im Unterricht zu lesen?

Wie tief man einsteigt, ist natürlich jedem Kollegen selbst überlassen. Ich persönlich finde, dass man den Text zumindest auszugsweise im Unterricht lesen sollte, um die ganze Monstrosität deutlich machen zu können. Geschichtsunterricht hat schließlich den Anspruch, nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern die Schüler auch anzuleiten, historische Zusammenhänge aus Quellen selbst zu erarbeiten und zu begreifen.

"Manche Lehrkräfte moralisieren bei dem Thema sehr stark"

Wie erleben Sie die Schüler bei der Arbeit mit "Mein Kampf"?

Allgemein interessieren sich die Schüler sehr für den Nationalsozialismus, viele fragen schon in der sechsten Klasse, wann denn der Zweite Weltkrieg drankommt - der steht aber erst in der Neunten auf dem Lehrplan. Vorher können die Schüler diese Grausamkeit auch noch nicht nachvollziehen. "Mein Kampf" stößt ebenfalls auf großes Interesse. Aus Familienbesitz habe ich ein Exemplar, das ich zu diesen Stunden immer mit in die Schule bringe. Die Jugendlichen haben sehr viele Fragen: "Darf man das besitzen?", "Was steht denn da drin?", und so weiter. Da lässt sich viel Un- und Halbwissen schnell korrigieren, das finde ich sehr wichtig.

Sie nehmen die Schüler beim Umgang mit "Mein Kampf" also stärker an die Hand als bei anderen historischen Quellen?

Ja, aus zweierlei Gründen: Einmal will ich sicherstellen, dass der Text und die Intention verstanden wird. Und dann habe ich hier natürlich eine große moralische Verantwortung, dass sich die Schüler wirklich bewusst werden, wie menschenverachtend dort argumentiert wird. Schüler dürfen sich bei bestimmten Passagen nicht einfach denken: "Hm, hat er halt gesagt." Man muss klar benennen, welche Konsequenzen in diesen Worten stecken; was es für die Betroffenen bedeutet, wenn sie zum Beispiel mit Tieren verglichen werden. Das darf ich als Lehrer den Schülern aber nicht vorbeten, sondern muss sie dabei unterstützen, es selbst zu erkennen.

Gibt es Passagen aus dem Buch, die sich dafür besonders eignen?

Das Kapitel "Volk und Rasse" halte ich für sinnvoll. Dort wird auf relativ drastische Weise deutlich, welches Weltbild und welche rassenbiologischen Vorstellungen Hitler hatte. Da gibt es eine Passage, wo er in der Argumentation vom Menschen zum Tier umschwenkt. Diesen Wechsel kann man zum Beispiel von den Schülern suchen und dann die Frage beantworten lassen: Passt das, kann man so argumentieren? Da kommt meist sehr schnell und deutlich die Antwort, dass dieser Vergleich die Menschen gezielt herabwürdigen soll.

Sie haben von den Stellen in "Mein Kampf" gesprochen, die faktisch falsch sind. Wie gehen Sie das mit den Schülern durch?

Zum Beispiel spricht Hitler an einigen Stellen im Buch über seine eigene Entwicklung. Dort lässt sich gut aufzeigen, dass er seine Biografie massiv geschönt hat. Für dieses Thema eignet sich die kommentierte Edition des Instituts für Zeitgeschichte sehr gut, weil dort die Fakten den Behauptungen des Autors direkt gegenübergestellt sind.

Als Seminarlehrer haben Sie viele Unterrichtstunden junger Lehrkräfte beurteilt. Welche Fehler machen Lehrer beim Umgang mit der NS-Zeit und "Mein Kampf"?

Manche Lehrkräfte moralisieren bei dem Thema sehr stark, das halte ich für einen Fehler. Man soll natürlich bei diesem Thema Haltung zeigen und grundsätzlich als Lehrer auch eine Meinung vertreten. Aber wenn man den Schülern die Nazis und auch Hitlers Buch umfassend näherbringt, sind sie klug genug, sich eine Meinung zu bilden. Wir Geschichtslehrer sind gegenüber den Jugendlichen verpflichtet, ihnen den Stand der Forschung näherzubringen, ohne zu indoktrinieren.

Sie haben schon viele Schülergenerationen unterrichtet. Hat sich deren Umgang mit dem Dritten Reich über die Jahre verändert?

Früher - so meine persönliche Erfahrung - ist man beim Thema Nationalsozialismus immer schnell in eine notwendige politische Diskussion gekommen: Wie soll man mit der NS-Zeit umgehen? Hat man die Vergangenheit ausreichend bewältigt? Muss oder darf man einen Schlussstrich ziehen? Diese Debatten wurden unter den Schüler mitunter sehr hitzig geführt.

Und heute ...

... erlebe ich unter den Schülern einen großen Konsens, wonach der Nationalsozialismus eine schreckliche Zeit gewesen ist und man sich daran erinnern und Wissen darüber aneignen muss.

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