Süddeutsche Zeitung

Lernprogramme an Schulen:"Yuppie, lass uns weitermachen"

Überall Schmetterlinge, Zauberer, Clowns: Eine Nebenwirkung des Digitalpakts wird die Infantilisierung der Schüler sein.

Gastbeitrag von Wolfram Meyerhöfer

In der Diskussion um den Digitalpakt scheint quer durch alle politischen Lager festzustehen, dass die Digitalisierung der Bildung eine Art Endziel des Guten ist. Wahrscheinlich rührt die Euphorie daher, dass die Bildungsprozesse von erwachsenen Berufspolitikern tendenziell nicht digital waren. Nur das absolut Fremde vermag eine solch indifferente Euphorie auszulösen.

Über den Autor

Wolfram Meyerhöfer ist Professor für Didaktik der Mathematik an der Universität Paderborn. Er hat den Mathematik-Teil der Lernplattform des Deutschen Volkshochschulverbandes inhaltlich konzipiert.

Ein Ziel des Digitalpakts ist die Nutzung von Lernprogrammen. Dieser Markt ist dadurch gekennzeichnet, dass die Käufer von dem zu Lernenden wenig Ahnung haben - sonst bräuchten sie ja keine Lernprogramme zu kaufen. Deshalb sind Lernprogramme voll von Schmetterlingen, Zauberern, Clowns und Kronen. Alle diese Gimmicks scheinen nur ein Ziel zu haben: den Lerninhalt zu verdecken. Alles Inhaltliche scheint so schlimm zu sein, dass Kleeblätter und Blumen den Schmerz des Lernens mildern müssen. Einmal bat mich ein Schüler, endlich das Lernprogramm mit dem Seelöwen, der die ganze Zeit Bälle auf der Nase tanzen lässt, wegzunehmen, damit er in Ruhe Zahlzerlegungen machen kann.

Diese Kultur des vermeintlich Kindgerechten kennen wir schon lange aus dem Schulbuchbereich. Auch dort werden Lerninhalte mit Comicfiguren und Spielzeugassoziationen umstellt. Meist wenden sie sich nur an die Erfahrungswelt von Mittelschichtskindern und sind eher Projektionen von Erwachsenen auf eine vermeintlich heile Kinderwelt. In den Lernprogrammen kommt nun eine neue Dimension von Infantilisierung hinzu: Hier sind meist Aufgaben zu bearbeiten. Dabei muss das Problem bearbeitet werden, dass der Lernende eine Information darüber erhalten soll, ob seine Antwort den Erwartungen der Programmmacher entspricht, ob sie also als falsch oder als richtig gilt.

Rückmeldungen, die man in Lernprogrammen hört, reichen dabei von "Du bist super" über "Du bist die Nummer 1" bis hin zu "Yuppie, lass uns weitermachen". Oftmals werden die Rückmeldungen mit einem Zufallsgenerator eingespielt. So kann man bei einem Memory beim ersten aufgedeckten, zufällig richtigen Paar, hören: "Du hast Köpfchen!"

Man findet auch andere Rückmeldungsmuster, die noch deutlicher in die Muster der Kulturindustrie passen: Fanfaren, euphorische Melodien, Beifall, Publikumsjubel. Auch dies erlebt man manchmal in Schulen. Es gibt Lehrkräfte, die im Klassenzimmer eine Art Fernsehstudioatmosphäre haben wollen und die die Kinder nötigen, Schülerbeiträge mit Beifall zu belohnen. Aber dort darf man wenigstens ermüden, so dass dieser Unsinn im Laufe der Zeit verebbt.

Im Ganzen scheint bei den Entwicklern von Lernspielen die Überzeugung vorzuherrschen, dass Kinder immer eine Rückmeldung benötigen. Lernende müssen immer an die Leine genommen werden. Es scheint auch nicht zu reichen, eine neutrale Rückmeldung zu geben, etwa durch ein einfaches Geräusch, ein Icon oder durch die Wiederholung bzw. Angabe des richtigen Resultats.

Das erscheint zwar als Randproblem des digitalen Lernens, aber die Summe genau solcher "Randprobleme" erzeugen im Ganzen eine veränderte Lern- und Denkkultur. Diese Kultur zeigt sich in den Lernprogrammen als Kultur der Infantilisierung. Das Kindliche wird zum Kindischen verzogen. Es ist aber auch eine Kultur der Ent-Individualisierung. Kein Lehrer und kein Elternteil könnte eine solch stumpfe Ignoranz gegenüber der individuellen Leistung des Kindes zeigen wie die Rückmeldungen in Lernprogramm.

Es ist auch etwas völlig Verschiedenes, ob ich mein Kind zuhause vor ein Lernprogramm setze oder ob dies die Institution Schule tut. Zum einen steckt hinter der Schule immer die Wucht der kulturellen Setzung, Schule fixiert Standards als kulturell gewollt. Zum anderen bedingt die Existenz der Schulpflicht, dass die Kinder notfalls mit der Polizei zur Schule gebracht werden. Das verpflichtet umgekehrt die Institution Schule zur Einhaltung eines Mindestniveaus der Ansprache der Schüler. Für Schulbücher gibt es deshalb eine kultusministerielle Überwachung. Dieser Anspruch scheint mit dem digitalen Pakt ad acta gelegt. Digitale Produkte werden ohne jede Anspruchsprüfung in die Schulen gedrückt.

Zu Recht gibt es die Forderung, dass der Digitalpakt auch Fortbildungen für Lehrkräfte finanziert. Aber diese Fortbildungen arbeiten die Lehrkräfte tendenziell in die affirmative Nutzung von digitalen Angeboten ein. Für eine kritische Reflexion der Lernkultur, die der Digitalpakt in die Schulen trägt, gibt es derzeit leider keinen Ort.

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