Süddeutsche Zeitung

Schule:Die Rechte oder die Richtige

Auf Linkshänder herabzuschauen, ist längst verpönt. Warum dennoch viele Kinder das Schreiben noch immer mit der für sie falschen Hand lernen.

Von Matthias Kohlmaier

Es sollte für Sven* ein aufregender Tag werden, der Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Wochenlang hatten seine Eltern den Fünfjährigen darauf vorbereitet, dass er bald kein Kindergartenkind mehr sein würde, sondern in die Schule gehen dürfe, wie es die großen Jungs tun. Die Erzieher im Kindergarten hielten Sven für schulreif, der Arzt bei der Einschulungsuntersuchung auch, alles gut also.

Ein halbes Jahr nach diesem ersten Donnerstag im Mai 2016 gehen Svens Freunde in die Schule - und er besucht noch immer den Kindergarten. Was ist schiefgegangen? Sven ist Linkshänder, bei der Einschreibung an der Grundschule schrieb er seinen Namen spiegelverkehrt. Kein Problem, dachten seine Eltern, dafür sei die Schule doch da: um ihren Sohn beim Schreibenlernen zu unterstützen. Die Rektorin aber sagte, so könne das Kind auf keinen Fall in die erste Klasse kommen. Sven wäre ja dann von Beginn an hintendran, darauf könne der Lehrer keine Rücksicht nehmen. Die Eltern sollten sich privat um ein Schreibtraining kümmern und ihren Sohn lieber ein Jahr später einschulen.

Die Zwangsumschulung von Linkshändern schadet dem Gehirn

Es sind solche Fälle, die häufig bei Barbara Sattler landen. Die Psychologin und Psychotherapeutin hat vor mehr als 30 Jahren die erste Beratungsstelle für Linkshänder in Deutschland gegründet. "Linkshändigkeit halten die allermeisten Menschen für normal. Wenn man aber nachfragt, worauf zum Beispiel beim Schreibenlernen zu achten ist, kommt oft nur ein Schulterzucken", sagt die Münchnerin. Sogar Lehrer und Erzieher an Grundschulen hätten oft zu wenig Ahnung. So passiere es immer noch, dass Kinder umgeschult würden, unabsichtlich zwar, aber eben nicht zu ihrem Besten. Auch manche Eltern tun sich noch schwer mit ihrem linkshändigen Kind. Sattler hört dann Sätze wie "Es wäre so schön, wenn es normal wäre".

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Etwa zehn bis 30 Prozent - je nach Statistik - der Menschen sind Linkshänder. Noch bis in die 80er-Jahre wurden in Deutschland linkshändige Kinder an etlichen Schulen zwangsumgeschult. Die Rechte war die Schreibhand, basta! Was diese Umerziehung anrichtete, beschrieb der Psychologe Ivo-Kurt Cizek als "maximalen unblutigen Angriff auf das Gehirn". Denn es ist die motorische Dominanz der gegenüberliegenden Gehirnhälfte, die festlegt, welche Hand die bevorzugte ist. Zwangsumgeschulte Schreiber leiden meist ihr Leben lang unter Gedächtnisstörungen, Konzentrationsproblemen und vielen weiteren Symptomen, die medizinisch nur schwer zu diagnostizieren sind. Rechte und linke Gehirnhälfte liegen bei diesen Menschen permanent im Clinch, sagt Sattler, die viel auf dem Gebiet geforscht und publiziert hat.

So bekam auch Ina* schnell Probleme. Sie hatte schon im Kindergarten ständig die Schreib- und Malhand gewechselt, erzählt ihre Mutter. Die Erzieherinnen habe das wenig bekümmert. Auf die Frage, ob Ina vielleicht Linkshänderin sei, kam die Antwort, es gebe keine Linkshänder in der Gruppe. Geeignete Scheren oder Stifte fehlten ebenfalls. Die Schuleinschreibung lief ähnlich wie bei Sven. "Die Rektorin kritisierte, dass Ina den Stift komisch halte, ihre Buchstaben nicht auf der Zeile säßen und ihre Schrift überhaupt unleserlich sei", sagt Inas Mutter. In die erste Klasse durfte das Mädchen trotzdem. Man solle in den Wochen bis Schulbeginn aber ordentlich üben, riet die Schulleiterin.

Dass Ina den Stift komisch hielt, weil er eigentlich in die andere Hand gehörte, darauf kam niemand, auch nicht ihre spätere Lehrerin. Als die Mutter in einer Sprechstunde gezielt nachfragte, wurde ihr gesagt, eine Linkshändigkeit ihrer Tochter sei ausgeschlossen. Schließlich habe sie an einem Schnelltest teilgenommen, bei dem die Kinder mit beiden Händen etwas schreiben mussten - anschließend habe man "geguckt, was schöner aussieht".

Inas Familie suchte sich außerhalb der Schule Hilfe. Ein wissenschaftlich fundierter Test in Barbara Sattlers Beratungsstelle ergab, dass Ina eindeutig Linkshänderin ist. Nach viel privatem Üben und Diskussionen mit der Grundschule hat sich ihre Schrift mittlerweile sehr gebessert. Und auf Drängen der Mutter hat sie nun, in der dritten Klasse, eine Lehrerin bekommen, die sich mit Händigkeit auskennt und das Mädchen unterstützt.

Bleibt die Frage, warum nicht alle Lehrer mit Linkshändigkeit zeitgemäß umgehen. Beispiel Bayern: Angehende Grund- und Sonderschullehrer durchlaufen im Lauf ihrer Ausbildung drei Veranstaltungen zum Schriftspracherwerb, erklärt Elke Inckemann, Professorin an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Linkshändigkeit ist da nur ein Thema unter vielen, die Zeit dafür knapp bemessen. "Das Studium vermittelt die grundlegenden Fakten", sagt Inckemann. Was immerhin bedeutet: Völlige Ahnungslosigkeit darf eigentlich nicht sein.

Denn auch im Lehrplan für bayerische Grundschüler ist ähnlich wie in anderen Bundesländern verschiedentlich von der dominanten Hand die Rede. Und davon, dass Schüler die Handhaltung und Lage der Arbeitsmaterialien so anpassen können sollen, dass sie mit ihrer dominanten Hand gut arbeiten können.

Ina hatte dafür in der Linkshänderberatung die sogenannte blaue Matte bekommen. Eine Schreibunterlage für linkshändige Kinder, auf der die richtige Position des Blattes und der Hände abgebildet ist. Die Lehrerin in der ersten Klasse fand sie unnötig und gab sie ihr wieder mit nach Hause. "Die Schule hat uns lange überhaupt nicht unterstützt, sondern teilweise sogar gegen uns gearbeitet", sagt Inas Mutter.

Wahrscheinlich bringt kaum ein Lehrer einem Kind absichtlich das Schreiben mit der falschen Hand bei. Da trotzdem noch immer so viele Kinder umgeschult werden, bietet die Expertin Sattler, die selbst Linkshänderin ist, regelmäßig universitäre Fortbildungen für angehende Lehrer an. Dort spricht sie auch über die vielleicht größte Gefahr, die Linkshändern beim Schreibenlernen begegnet: das Nachahmen. Kinder, die sich ihrer Präferenz nicht sicher sind, nehmen den Stift in die Hand, die auch Mitschüler und Eltern zum Schreiben benutzen - und das ist häufig die rechte. Deshalb wünscht sich Sattler von Lehrern und Eltern mehr Aufmerksamkeit. "Kaum ein Kind wird von selbst nachfragen, wenn es wegen seiner Linkshändigkeit Probleme beim Schreibenlernen hat. Kinder wollen ja in der Regel nichts Besonderes sein, sondern normal", sagt sie.

*Name von der Redaktion geändert

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Quelle:
SZ vom 14.11.2016/mkoh
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