Schule:"Die Eltern machen Schulkindern unbewusst am meisten Stress"

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Viele Schüler leiden unter Stress - und oft sind die Eltern daran mitschuldig.

(Foto: Julian Stratenschulte/dpa)

Schulpsychologin Michaela Huber erklärt, wie Eltern ihre Kinder unterstützen können, wenn es in der Schule einmal nicht so gut läuft.

Interview von Matthias Kohlmaier

Michaela Huber arbeitet als Schulpsychologin am Münchner Oskar-von-Miller-Gymnasium. Dort ist sie als Fachseminarlehrerin auch für die Ausbildung der Referendare zuständig.

SZ.de: Frau Huber, was verursacht Schulkindern am meisten Stress?

Michaela Huber: Das sind leider oft und unbewusst die Eltern. Viele haben zu wenig Distanz zur Schule, haben selbst Ängste und können damit ihren Kindern auch kein vernünftiges und stressfreies Verhältnis zum Lernen vermitteln. Viele dieser Eltern meinen, dass man es nur über den Weg aufs Gymnasium und das Abitur im Leben noch zu etwas bringen kann. Und zwar nicht irgendein Abitur, ein sehr gutes muss es sein.

Betrifft der Stressfaktor Eltern alle Kinder gleichermaßen?

Nein, besonders schlimm ist es für die feinfühligen und eher angepassten Kinder, diejenigen, die es allen recht machen wollen. Die spüren die Angst der Eltern und dadurch bekommen sie den Impuls, alles perfekt machen zu müssen. Wenn solche letztlich ohne es zu wollen stressenden Eltern zu mir in die Sprechstunde kommen, sage ich gerne: "Gehen Sie in die Apotheke, kaufen Sie eine große Flasche 'Heitere Gelassenheit' und nehmen Sie davon dreimal täglich 20 Tropfen." Nur wenn die Eltern in die eigene jahrelange Erziehungsarbeit, die sie geleistet haben, Vertrauen haben, kann sich ihr Schulkind gut und entspannt entwickeln.

Eltern sollten ihre Kinder einfach machen lassen?

Das kommt darauf an: Eltern müssen ihre Kinder objektiv anschauen: Hat das Kind keinen Bock, weil es jeder Anstrengung aus dem Weg gehen will oder hat es vermeintlich keinen Bock, weil es gestresst und überfordert ist. Eltern müssen im zweiten Fall ein Gegengewicht zur Schule organisieren, damit es Schonräume gibt, die die Kinder brauchen, um abzuschalten. Sie sollten am Sonntag nicht stundenlang mit ihren Kindern Mathe lernen, sondern sich aufs Fahrrad setzen und gemeinsam eine schöne Radtour machen. Danach kann man vielleicht wieder den Kindern beim Lernen helfen.

Die Eltern sollten also andere Prioritäten setzen.

Viele Eltern haben berufsbedingt nur wenig Zeit für ihre Kinder. Wenn es dann aber um die Schule geht, nehmen sie sich plötzlich Zeit. Da kommt dann der Papa auch mal früher aus dem Büro heim, weil die Tochter am nächsten Tag eine Matheprüfung schreibt. Das ist für die Kinder ein fatales Signal! Die Schule erfährt so eine unnötige Überhöhung und das macht den Kindern langfristig zu Recht Bauchschmerzen.

Wie lässt sich die Fokussierung auf die Schule stoppen?

Ganz einfach: Eltern sollten ihren Kindern signalisieren, dass es noch andere wichtige Themen neben der Schule gibt; dass auch das Ausräumen der Spülmaschine wichtig ist oder die angesprochene Radtour. Je mehr relevante Themen es im Leben eines Kindes gibt, desto relativer wird Schule. Das heißt: Eltern sollten das Ausräumen der Spülmaschine genauso wichtig nehmen und einfordern wie das Lernen.

"Die Fixierung aufs Gymnasium halte ich für komplett verfehlt"

Sie haben den Wunsch vieler Eltern angesprochen, dass das Kind aufs Gymnasium geht und Abitur macht, damit es später viele Möglichkeiten hat. Finden Sie es nachvollziehbar, dass Eltern für dieses Ziel ein wenig Druck machen?

Viele Eltern meinen, ihren Kindern etwas Gutes anzutun, wenn sie ihnen zum Abitur am Gymnasium verhelfen. Aber: Manche Kinder sind nicht fürs Gymnasium geschaffen. Es gibt eben Elfjährige, denen sind die bis zu 33 Wochenstunden zu viel, die ein Sechstklässler in Bayern hat. Sie wären zwar klug genug, aber brauchen in der Entwicklung einfach noch ein bisschen Zeit. Warum sollen solche Kinder nicht auf die Realschule gehen, dort stressfreier einen guten Abschluss machen - und wenn sie dann wollen, ihr Abitur an einer Fachoberschule machen? Die Fixierung aufs Gymnasium - und ich sage das als Gymnasiallehrerin - halte ich für komplett verfehlt. Das Abitur bekommt man auch auf anderen Wegen, und zwar einfacher.

Zu etwas mehr Laisser-faire würden sich die meisten Eltern vermutlich überreden lassen. Sobald aber die Noten schlecht werden, ist es damit vorbei. Was raten Sie in diesem Fall?

Wie schlimm eine schlechte Note ist, gerade bis zur Unterstufe, das definieren die Eltern. Wenn ein Kind mal eine Vier nach Hause bringt, dann ist es als Elternteil mein Job, keine Panik zu verbreiten, sondern etwa zu sagen: "Kein Thema, dafür hast du in den letzten Wochen viel im Fußballverein trainiert und dich da toll verbessert. Im Leben kommt es auf vieles an, nicht nur auf Schule."

Bei Kindern mit grundsätzlich guten Noten ist das bestimmt sinnvoll. Was aber, wenn Eltern merken, dass ihr Kind der Belastung zum Beispiel am Gymnasium nicht gewachsen ist?

Dann müssen sie mutig genug sein, das mit dem Kind offen zu besprechen und ihm zu erklären, warum sie einen Schulwechsel für gut halten würden. Viele Kinder bekommen dann Panik, weil erstens alle ihre Freunde an der aktuellen Schule sind und sie zweitens auch nicht als Loser dastehen wollen, die die Schule nicht packen. Ich rate Eltern in so einer Situation, mit dem Kind eine Frist abzusprechen. Ihm klar zu sagen, dass es sich weniger stressen soll und man dann in einem halben Jahr oder einem Jahr noch mal überlegt, wie und wo es schulisch weitergehen sollte.

Die Kinder sollten nach einer Übergangsfrist selbst entscheiden, wo sie zur Schule gehen wollen?

Nein, das ist Aufgabe der Eltern. Sie sollen die Meinung des Kindes anhören, aber letztlich die Entscheidung treffen. Kaum ein Kind sagt freiwillig: "Ich will auf die Realschule", wenn es weiß, dass die Eltern enttäuscht sind. Wenn die Eltern aber sagen: "Wir wollen, dass du da hingehst, weil wir wollen, dass es dir gut geht", dann sind Kinder in der Regel sehr dankbar.

Andere Situation: Mein Kind lernt die ganze Zeit, macht alle freiwilligen Aufgaben aus Sorge, etwas zu versäumen. Wie mache ich ihm bewusst, dass es auch noch ein Leben neben der Schule geben muss?

Im Prinzip so, wie sie es umgekehrt machen würden, wenn ihr Kind stinkfaul ist und sie es gelegentlich zum Lernen verdonnern müssen: Sie reduzieren die Lernzeit. Will ihr Schulkind am Sonntag lieber Mathe lernen als bei schönem Wetter das Haus zu verlassen, könnten Sie sagen: "Du lernst jetzt zwei Stunden und dann unternehmen wir etwas!" Es ist Aufgabe der Eltern, ihren Kindern zu helfen, Struktur in den Schulalltag zu bekommen. Und ihnen beizubringen, was wichtig ist und was vernachlässigbar.

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