Deutscher Schulpreis:"Das Glück, eine arme Schule zu sein"

Deutscher Schulpreis: Die Kinder der Gebrüder-Grimm-Schule in Hamm haben Grund zum Feiern: Ihre Schule hat den Deutschen Schulpreis 2019 geholt.

Die Kinder der Gebrüder-Grimm-Schule in Hamm haben Grund zum Feiern: Ihre Schule hat den Deutschen Schulpreis 2019 geholt.

(Foto: Traube/Robert Bosch Stiftung)

Eine Grundschule in Hamm begegnet Kindern mit ganz besonderer Wertschätzung. Dafür wird sie nun ausgezeichnet.

Von Susanne Klein

An der orangeroten Tür der Hasenklasse klebt ein Schild: "Hier unterrichtet die beste Lehrerrin der Welt!" Sterne und Herzchen zieren das Blatt, das zwei Schülerinnen der 4b kürzlich für ihre Klassenlehrerin gemalt haben. Janina Huesmann, 29, hat sich über das Lob gefreut - und darüber, dass die Mädchen nicht nur sie bedacht haben. Jedes Kind in der Klasse habe an diesem Tag ein Post-it mit einem Kompliment an seinem Platz gehabt, erzählt sie. "Du bist intelligent" zum Beispiel. Oder: "Du bist hilfsbereit."

Diese Kultur der Wertschätzung hat der Jury des Deutschen Schulpreises 2019 imponiert. Auf der Suche nach der landesweit besten Schule, die es am Mittwoch in Berlin zu prämieren galt, wurden die Bildungsexperten in der früheren Bergbaustadt Hamm fündig, die Gebrüder-Grimm-Schule liegt nicht weit vom Industriedenkmal Zeche Radbod. 220 Grundschüler lernen dort in acht Klassen. Fast die Hälfte kommt aus finanzschwachen Familien, auch die Schule selbst hat wenig Geld. Jeder zehnte Schüler wird sonderpädagogisch gefördert, jeder zweite stammt aus einer Migrantenfamilie, viele haben getrennte Eltern.

Die Schüler bekommen Lobbriefe für Lernerfolge und soziales Verhalten

"Wir sind ein Brennpunkt", sagt Janina Huesmann, "aber das Schulklima ist toll". 35 Erwachsene kümmern sich um die Kinder, rund die Hälfte sind Lehrer, andere üben Sozialberufe aus. Alle stehen hinter dem Schulmotto "Lachend Leistung lieben lernen". Um diesen Optimismus mit Leben zu füllen, muss die Schule tagtäglich motivieren, das braucht Ideen und Instrumente. Die Lobbriefe der Lehrer etwa, die sich Schulleiter Frank Wagner ausgedacht hat, damit bei den Schülern zu Hause auch gute Nachrichten aus der Schule ankommen.

Gelobt werden Lernerfolge, Talente und soziales Verhalten, eine gut geschriebene Geschichte ebenso wie das Aufheben heruntergefallener Jacken. "Wir versuchen, das Kind als Ganzes zu betrachten", sagt Janina Huesmann, "nicht nur, wie gut oder schlecht es in Mathe ist." Frank Wagner sagt: "Über die Lobbriefe freuen sich die Kids wie Bolle." Ganz besonders dann, wenn sie im "Treffpunkt Grimm" vorgelesen werden, wobei die Schüler versuchen herauszuhören, wem der Brief gilt, bevor der Adressat verkündet wird. Die feierliche Schulversammlung ist der Höhepunkt des Monats, aber die positive Resonanz prägt auch den Alltag. Und die Haltung der Pädagogen färbt ab auf die Kinder, wie die Hasenklasse beweist. Anerkennung ist so etwas wie der Herzschlag der Schule, ein stetiger Verstärker auch ihrer anderen Qualitäten, des differenzierten Lernkonzepts etwa oder der klar rhythmisierten Abläufe.

Dass unter den 15 für den Schulpreis nominierten Schulen ihre eigene die beste ist, erfahren die Schüler am Mittwoch beim Public Viewing in der voll besetzten Aula. Es gibt Pizza und Fanta, und die Spannung sei "kaum auszuhalten", erzählt eine Lehrerin am Telefon. Seit über einer Stunde läuft der Festakt im Berliner E-Werk schon, ein Geleitwort von Angela Merkel wurde eingespielt, kleinere Preise wurden verliehen. Um 14:25 Uhr endlich die Nachricht: erster Platz! Jubelgeschrei und Freudentränen hier wie dort, in der Aula springen Kinder, Eltern und Lehrer auf, umarmen sich. Die Halle erlebt ihren größten Tumult, dabei ist sie einiges gewohnt. Auf der Leinwand reckt Schulleiter Wagner den mit 100 000 Euro dotierten Preis der Robert-Bosch- und der Heidehof-Stiftung in die Höhe.

Schade nur, dass das Publikum in der schicken Berliner Industrie-Location nicht auch den direkten Videodraht zur Gebrüder-Grimm-Schule hat. Die sieht nämlich nicht so aus, wie man sich eine vorbildliche Bildungsanstalt vielleicht vorstellt. Die lokale Presse verglich die kleine Schule einmal mit einer Legebatterie. Doch die Pädagogen wissen ihren Flachbau kreativ zu nutzen, für ein Lernkaleidoskop zum Beispiel: Stellwände und Regale unterteilen klassenzimmergroße Räume in Inseln für individuelles Lernen, Werken, Spielen. In einer Ecke entstehen unter lautem Gehämmer Nagelbilder, ein paar Meter weiter drehen drei Schüler mit Legofiguren und einem Tablet ein Stop-Motion-Video. Es gibt Abteile für Matheknobeleien, zum Theaterspielen, Malen, Musizieren. Eine offene Lernlandschaft mit einfachsten Mitteln, in der Schüler im eigenen Tempo selbständig Arbeitsaufträge erledigen können.

"Wir wollten aus dem, was wir hatten, das Beste machen"

Ein multiples Dauerprovisorium ist auch das Foyer. Die kleine Halle dient als Aula, als Kantine für die Ganztagsschüler, als Elternlounge. Und jeden Morgen vor Unterrichtsbeginn wird sie zur Disco. Eine Viertelstunde lang dreht sich die Glitzerkugel, heute tanzen 40 Kinder mit, Beine zucken, Haare fliegen zum Dance-Hit "Break free". Für die Musik sorgen die Schüler selbst. Als der Gong ertönt, bricht sie sofort ab, und die Kinder laufen in die Klassen.

Wenige Minuten später in der 4b: Entspannungsmusik rieselt aus der Box an der Wand, Köpfe sind still über Blätter und Hefte gebeugt. Eine Magnettafel zeigt, was gerade dran ist: Lernzeit. Ein Schüler zerlegt Zahlen, der nächste schreibt Wörter mit eu, die dritte übt Verkehrsregeln für das heutige Fahrradtraining.

Jeden Morgen vor dem Unterricht wird die Aula zur Disco. Für die Musik sorgen die Kinder selbst

Um 8:15 Uhr eröffnet Janina Huesmann den gemeinsamen Deutschunterricht. Das Thema: "Wir schreiben Berichte für unsere Abschlusszeitung". Zuerst werden die Regeln des Berichtens besprochen, dann beantworten die Kinder Arbeitsblätter auf unterschiedlichen Kompetenzniveaus. Jeder Schüler der Grimm-Schule weiß, welche Kompetenzen er gerade trainiert, denn jeder hat einen wöchentlichen Lernzeitplan und einen eigenen Kinderlehrplan in Ich-Form, der die Vorgaben aus Nordrhein-Westfalen in Kindersprache übersetzt. Zudem setzen sich die Schüler mithilfe der Lehrer persönliche Ziele und schreiben auf Zettel, die sie an die Wand hängen, wie und wann sie diese erreichen wollen.

"Wir arbeiten stark ritualisiert und haben klare Leistungserwartungen", sagt Schulleiter Wagner. "Jedes Kind, das uns verlässt, muss eine lesbare Handschrift haben, sinnentnehmend lesen und gut Zahlen zerlegen können." Diese Kompetenzen werden schwerpunkthaft in mehrwöchigen Kursen trainiert, die sich mit Projektepochen abwechseln, in denen die Kinder eher ihren Neigungen folgen können.

So strukturiert war die Schule nicht immer. Als Wagner sie vor zwölf Jahren übernahm, hätten die Kinder "viel zu wenig gelernt", sagt er. Der Schule drohte die Schließung. Bei einer Beratung im Schulamt wurde ihm klar: Nur die Schule selbst kann sich verändern. Das war Wagners Schlüsselmoment. "Wir wollten uns nicht mehr an Problemen aufhalten, sondern aus dem, was wir hatten, das Beste machen", erzählt er. Schritt für Schritt krempelten er und sein Team die Schule um, zuerst kam die Lobkultur, dann folgten das Lernkaleidoskop, die Kinderlehrpläne, der Epochenunterricht und viele tägliche Rituale, beispielsweise der Klassenrat nach der Hofpause, um etwaige Konflikte zu klären.

Mehr Lehrer gab es für all das nicht. Dennoch preist Wagner "das Glück, eine arme Schule zu sein". Was die Grimm-Schule vorangebracht habe, seien ihre Nöte gewesen. Heißt das, ein Preisgeld ist gar nicht nötig? Wagner grinst, er weiß noch nicht, dass seine Schule siegen wird, als er antwortet: Willkommen wäre das Geld schon. Immerhin ist draußen bereits der Bauplatz für einen Anbau abgezäunt, den die Stadt bewilligt hat. Den neuen Raum zu nutzen, verlangt neue Ressourcen. Und Ideen natürlich. Die hat die Schule ja im Überfluss.

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