Süddeutsche Zeitung

Schule:"Der Aufstieg der AfD beschäftigt die Schüler sehr"

Lehrer müssen Schülern nicht nur Mathematik, sondern auch die (Welt-)Politik erklären. Anette Völker-Rasor berichtet, was das im Alltag bedeutet.

Interview von Tobias Matern

Das Foto eines toten Kindes an der türkischen Küste, Flüchtlinge im Schlamm von Idomeni, der Terroranschlag in Brüssel: Wie gehen Kinder und Jugendliche mit der Weltlage um? Wie versucht Schule darauf einzugehen? Ein Gespräch mit Anette Völker-Rasor, Gymnasiallehrerin im bayerischen Penzberg, über den Umgang mit Flucht und Vertreibung, über Schülerfragen zur AfD - und den richtigen Moment für einen Lehrer, die eigene Ratlosigkeit einzugestehen.

SZ: Millionen Menschen sind auf der Flucht, der Rechtspopulismus erlebt einen Aufschwung, Europa gibt sich als Ansammlung egoistischer Nationalstaaten. Wie geht die Schule damit um?

Anette Völker-Rasor: Die Anforderungen an die Schulen sind gestiegen, aber die Zeit ist leider nicht mitgewachsen. Ich will nicht in das altbekannte G-8-Lamento und gedrängte Lehrpläne einsteigen. Denn es ist zum Glück zu beobachten, dass wir eine wache Schülergeneration haben, obwohl sie ganz anders dasteht als noch vor zehn Jahren, was die Vorbildung und Kommunikation im Elternhaus angeht.

Was meinen Sie damit genau?

Das ist die Generation Handy, da können die Jugendlichen gar nichts dafür. Sie sprechen heute anders als Jugendliche noch vor zehn Jahren gesprochen haben, sie schreiben anders, als Jugendliche noch vor zehn Jahren geschrieben haben. Das mag man alles beklagen, aber man kann sich auf das Positive konzentrieren: Das Wachsein, das Berührtsein, das hat sich nicht geändert, das ist nach wie vor bei den Schülerinnen und Schülern vorhanden. Unser Problem in den Schulen ist: Wir haben nicht genug Zeit, auf das Bedürfnis, über die aktuelle Lage zu sprechen, einzugehen.

Können Sie solche Situationen nicht schaffen?

Das geht schon, wir haben uns im Oktober in der Schule die Talkshow von Günther Jauch angesehen, als sich Björn Höcke von der AfD auf diese sehr unangenehme Weise ausgelassen hat. Die Schüler haben geradezu darum gebettelt, sodass mehrere Kollegen zusammen einige Stunden genutzt haben, das einzuordnen. So haben wir eine Diskussion über ein aktuelles, drängendes Problem geführt. Da konnten wir nach den Landtagswahlen und den Erfolgen der AfD anknüpfen. Allerdings nur noch in der Pause, weil die Zeit zu knapp war.

Sie beschreiben Schüler, die selbst in der Pause noch das Gespräch suchen. Erleben Sie eine sehr politische Generation?

Sie ist nicht politischer als Vorgängergenerationen, die Fragen haben sich eben geändert. Ich erlebe gerade in den vergangenen Jahren, in denen ich immer wieder 14- bis 16-Jährige unterrichtet habe, sehr wache junge Leute. Die sind immer für andere Dinge wach, für andere Fragen sensibel.

Wie steht es um die Diskussionskultur, die diese Generation zu Hause erlernt?

Es ist schon so, dass Gespräche, die in meiner eigenen Schulzeit über politische Themen wie selbstverständlich zu Hause geführt wurden, heute nicht mehr geführt werden. Schon die Art, wie Kinder und Jugendliche sich in Diskussionen äußern, ist oft unbeholfen. Ich will das gar nicht negativ konnotieren, aber das ist schon so, dass man merkt, es fehlt das tägliche Training.

Es gibt einen gesellschaftlichen Trend, dass sich viele Menschen nur noch ihre eigenen Positionen bestätigen möchten - auch unter Jugendlichen?

Das lässt sich genau beobachten. Wir haben zwei Söhne, und was wir in den sozialen Netzwerken mitbekommen, wie schnell da jemand plattgemacht wird mit Äußerungen, die weit davon entfernt sind, Argument genannt werden zu können , ist besorgniserregend. Kinder und Jugendliche tun sich heute schwerer als früher, etwas in einer abstrakten Weise zu begründen und dann ein konkretes Beispiel hinzuzufügen. Ich will das gar nicht kulturpessimistisch werten. Die Jugendlichen werden mit ihren eigenen Diskussionsformen andere Wege finden, so meine Hoffnung.

Wie sollten Eltern damit umgehen, wenn sie erleben, dass ihre Kinder mit Hetze gegen Flüchtlinge in sozialen Netzwerken konfrontiert werden?

Da kann ich nur eine simple Antwort geben: Sprechen Sie mit Ihren Kindern. Schon bei kleinen Kindern fällt auf, dass wenn man sie etwas fragt, man oft keine Antwort bekommt. Aber man bekommt etwas erzählt, wenn man selbst etwas berichtet oder seine Meinung preisgibt. So ergibt sich ein Gespräch. Aber noch ist gar nicht bei allen Eltern angekommen, wie groß die Herausforderungen sind, wie groß der Gesprächsbedarf für ihre Kinder ist.

Wie erleben Sie es, wenn sich Schüler offen gegen Flüchtlinge aussprechen?

Penzberg ist zum Glück eine offene Stadt, in der viel für Flüchtlinge getan wird. Aber wir beobachten dieses wachsende gesellschaftliche Klima der Ablehnung auch mit Furcht. Der Aufstieg der AfD, das beschäftigt die Schüler zum Beispiel sehr.

Wie sollten Lehrer reagieren, wenn Schüler Sympathie für die AfD bekunden?

Darüber zu sprechen ist das Entscheidende. Neulich haben mich die Schüler überrascht: Sie wollten nach den Landtagswahlen noch einmal darüber reden, was die AfD genau will. Also habe ich gefragt: Wie können wir darüber reden, wenn wir es gar nicht genau wissen? Dann habe ich ein Interview mit einem Politologen mitgebracht, der beschreibt, wofür die AfD steht. Die Fragen für die Diskussion waren: Wie stehen wir zum Thema innere Sicherheit? Was bedeuten für uns traditionelle Familienformen? Wie stehen wir zu den Themen Flucht und Vertreibung? So kann man über Inhalte sprechen. Schwierig wird es, wenn Schüler ganz schweigen.

Sie meinen ein Schweigen, das über Desinteresse hinausgeht?

Darüber mache ich mir viele Gedanken. Es gibt Situationen, in denen ich das Gefühl habe, er oder sie ist demonstrativ still, und man würde gerne wissen, was geht da noch im Hinterkopf vor? Ich finde es wichtig, dass wir als Lehrer politisch sichtbar werden und klar wird, wofür wir stehen. Es ist aber nicht meine Aufgabe, Schüler von meiner politischen Meinung zu überzeugen, sondern sie ein Stück beim Älterwerden zu begleiten, sodass wir es später mit Menschen zu tun haben, die in ihrer Gemeinschaft aktiv sind und nicht nur auf ihr Smartphone schauen.

Das Bild eines Kindes, das auf der Flucht nach Europa gestorben und an einen türkischen Strand geschwemmt worden ist, ging um die Welt. Wie helfen Sie Schülern, solche Bilder zu verarbeiten?

Ich habe es zum Thema einer Schulaufgabe gemacht, ohne es den Schülern direkt zu zeigen. Wir hatten uns vorher über den Umgang mit Bildern unterhalten. Ich habe angeknüpft an den hemmungslosen Umgang mit eigenen Bildern, ob das Facebook, Twitter oder Instagram ist. Wir sind dann zu der Frage übergegangen, was zu tun ist, wenn es gar nicht um eigene Bilder geht, sondern um Bilder, die das Leid anderer zeigen. Sie sind ganz allein auf das Bild des toten Kindes zu sprechen gekommen.

Und wie waren die Haltungen?

Die einen fanden, das Foto sei ein Eingriff in persönliches Leid, so nah dürfen wir nicht heran. Andere meinten, das muss man zeigen, damit klar wird, was gerade geschieht. Auch bei Gesprächen über die Lage an der mazedonischen Grenze fällt auf: Diese Generation spricht nicht abstrakt von den Massen hinter den Stacheldrähten, sondern von den Füßen im Schlamm. Sie ist berührbar. Das gibt mir Hoffnung.

Wie reagieren Schüler auf Anschläge wie in Paris und nun in Brüssel?

Sie sind schockiert, und sie empfinden Machtlosigkeit, genau wie wir Erwachsenen. Mehr als wir brauchen sie die Gemeinsamkeit, um so etwas zu bewältigen. Dabei sind wir, Lehrer wie Eltern, gefragt: Erinnern Sie sich an diesen eigenartigen Aufruf zum Schwarztragen nach den Anschlägen von Paris? In den sozialen Netzwerken war das sofort beschlossene Sache. Dass die Aktion aber auch eine Kritik an der Flüchtlingspolitik unserer Regierung enthielt, kam erst im Unterricht zur Sprache.

Können Sie als Lehrerin Schülern die Angst vor dem Terror abmildern?

Vielleicht kann ich nur ein Auge darauf haben, zu Hause und in der Schule, dass unsere Kinder und Jugendlichen nicht aus Angst und Trauer auf Vereinfachungen à la AfD hüben und Trump drüben hereinfallen. Wenn etwa Flüchtlingsfrage und Terroranschläge miteinander in Verbindung gebracht oder mit schnellen Folgerungen unsere Grundwerte angetastet werden, müssen wir darüber reden. So tragen wir dazu bei, dass aus Angst nicht Panik wird.

Gibt es angesichts der enormen politischen Probleme Momente, in denen Sie in Ihrem Beruf ratlos sind?

Was ich als außerordentlich schwierige Frage erlebt habe, war der Umgang mit der Kölner Silvesternacht. Ich kam ins Klassenzimmer, und die erste Frage war: Haben Sie sich jetzt auch ein Pfefferspray gekauft? Dann habe ich gesagt: Brauche ich das jetzt in Penzberg? Das war eine viel zu kurz gegriffene Reaktion. Aber auch so eine Reaktion führt zu weiteren Nachfragen. Es geht darum, dass Schüler uns Lehrer als reife Menschen erleben. Reif, das wissen auch viele Schüler, muss man erst mal werden. Und zum Reifsein gehört, dass man an gewissen Stellen auch mal nichts sagen kann.

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SZ vom 29.03.2016/mkoh
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