Die Diskussion über den Umgang der Schulen mit den Folgen der Corona-Krise ist von irritierender Einseitigkeit geprägt. Unzulänglichkeit in allen Bereichen wird beklagt - bei technischer Ausstattung, pädagogischer Bewältigung und politisch-administrativer Agenda. Dabei verkennen die Kritiker, dass auch die Schulen sich in einer beispiellosen Ausnahmesituation befanden. Von einem Tag auf den anderen mussten sie sich Bedingungen stellen, auf die sie nicht vorbereitet sein konnten, weil ihnen die Grundlage ihrer Existenz entzogen war: die Präsenz in einem geschlossenen Sozialgefüge. Welches System hätte einen so fundamentalen Angriff einfach so parieren können?
Der Krisenmodus sollte auch nicht für die übliche Digitalisierungskritik instrumentalisiert werden. Dass unsere digitale Infrastruktur unzureichend ist, wissen wir schon lange. Für die Anforderungen einer Off-School-Situation aber wird sie niemals ausreichen. Das verhindert schon die Situation aufseiten der Schüler, wie die zunehmenden Forderungen nach kostenlosen Leihgeräten für bestimmte Gruppen zeigen. Nein, gemessen an den Bedingungen des Shutdown hat sich Schule in allen Bundesländern als lernfähig und flexibel erwiesen. Das ist beachtlich und sollte dazu anregen, nicht nur auf die Defizite zu schauen. Dann wird deutlich, dass die Krise auch Chancen bietet. Sie schärft den Blick für Prozesse und Strukturen, die normalerweise weniger oder gar nicht sichtbar sind.
Die wichtigsten Akteure, die Schüler, sind in ungewohntem Ausmaß in ihrer Selbständigkeit gefordert - und scheitern oft. Zum einen, weil sie - vor allem in den unteren Jahrgängen - damit schlicht überfordert sind. Zum andern aber, weil der Unterricht ihnen zuvor zu wenig an Eigenverantwortung für den Lernprozess vermittelt hat. Sichtbar werden auch erhebliche Unterschiede bei den Lernbedingungen. Das gilt nicht nur für die Technik, sondern mehr noch für oft einkalkulierte Fremdhilfe. Es hat sich gezeigt, dass Eltern, selbst wenn sie Zeit haben, als Ersatzlehrer kaum taugen. Schon aus Gründen der Chancengerechtigkeit sollte das daher nicht von ihnen verlangt werden.
Aber auch Lehrerhandeln gerät jetzt mehr in den Blick. Unterschiede, von denen wir immer schon wussten, wirken sich stärker aus, sei es bei Flexibilität und Kreativität in den Aufgabenformaten, sei es bei der Vertrautheit mit digitalen Kommunikationssystemen oder ganz allgemein bei der Verlässlichkeit pädagogischer Zuwendung. Auf der anderen Seite sind die Vorreiter einer digital basierten Unterrichtskultur im Moment besonders gefragt, wachsen mitunter über sich hinaus, indem sie aufgeschlossenen Kolleginnen und Kollegen die Welt von Chaträumen und Videoportalen eröffnen, die methodischen Möglichkeiten von Kahoot, Trello und Zumpad aufzeigen und ihre Schulen so einen großen Schritt in Richtung einer sinnvollen Digitalisierung voranbringen. Natürlich würde der größer ausfallen, wenn die versprochenen Ressourcen des Digitalpakts schon zur Verfügung stünden. Aber wenn überhaupt irgendwo, dann hat die Ausnahmesituation hier zweifellos als Katalysator gewirkt. Schulen werden orientierter und mit klarerem Urteil aus der Krise kommen.
Denn es hat sich in den letzten Wochen auch gezeigt, dass die pädagogische Reichweite digitaler Tools begrenzt ist. Kein noch so lebendiger Chat und keine Videokonferenz können die Dynamik echten Unterrichts ersetzen. Das wichtigste Fundament schulischen Lebens ist das menschliche Miteinander, und soziale Interaktion lässt sich eben nicht in Maschinensprache abbilden. Solche "Unübersetzbarkeiten" klarer zu erkennen ist ein wichtiges Resultat der derzeitigen Entwicklung.
Mitunter haben Eltern jetzt erst entdeckt, dass sie Kinder haben, die Zeit brauchen
Die größten Veränderungen aber hat der Krisenmodus für Familien mit sich gebracht: Mitunter haben Eltern jetzt erst, wo Kitas, Schulen und Großeltern als Betreuungsinstanzen ausfallen, entdeckt, dass sie Kinder haben, die Zeit brauchen. Aber diese Zeit ist nicht eingeplant. So zeigt es sich, wie wenig stabil die Work-Life-Balance, die unsere arbeitsteilige Gesellschaft anbietet, in Wahrheit ist. Daran würde auch ein vorübergehendes Corona-Elterngeld nichts ändern. Wir sehen sehr deutlich: Unsere Schulen sind nicht nur für Bildung und Erziehung zuständig, wie es in den Verfassungen der Länder zu lesen ist, sondern auch für die Betreuung, möglichst bis zum Nachmittag. Auf diese Funktion können wir offenbar schon aus ökonomischen Gründen nicht verzichten.
Schließlich standen nicht zuletzt Politiker unter Bewährungsdruck. Und dem haben sie nicht immer standgehalten. So hat die Kultusministerkonferenz (KMK) selbst angesichts des Ernstfalls nur mit Mühe zu einheitlichem Vorgehen gefunden, etwa bei den Abiturprüfungen. Beim Beginn des Home-Learnings dann war das wieder vergessen: In Sachsen-Anhalt etwa gab es verpflichtende Aufgaben, die bewertet wurden, während Niedersachsen Online-Aufgaben zunächst völlig ins Ermessen der Lehrkräfte stellte. Und auch den Wiederbeginn des Unterrichts regelten die Länder nicht im Gleichklang. Solche Eigenwilligkeiten widersprechen der angeblich bereichernden Vielfalt des Föderalismus. Sie bestärken die Forderung nach einer grundlegenden Reform der KMK, um länderübergreifenden Problemen im Bildungsbereich zukunftssicherer begegnen zu können.
Aber die Chancen der Krise liegen nicht nur darin, dass sie uns vieles klarer sehen lässt. Sie bietet auch für den Bildungsauftrag von Schule fruchtbare Impulse. Denn was wir erleben, ist in der Menschheitsgeschichte singulär: ein globales Experiment, das alle bisher denkbaren Ausmaße übersteigt. Ob es ein "Wendepunkt in der Geschichte" der Menschheit (John Gray) ist, wird sich später erweisen, Triftiges spricht dafür. Langsam dämmert es manchem: Ein Rebooten des Gesamtsystems globalen Lebens mit einfach nur fehlerfreierer Software wird es nicht geben. Für einen Unterricht, der Persönlichkeitsbildung zum Ziel hat, ergibt sich daraus eine Reihe von Grundfragen, deren Bedeutsamkeit sich für jeden einzelnen Jugendlichen gerade unmittelbar erwiesen hat.
Das beginnt mit dem tief reichenden Gefühl der Verunsicherung, dem sich niemand entziehen kann. Mit der Pandemie kam etwas ins Rutschen, das uns so gewiss war, dass wir seine Abwesenheit nicht denken konnten. Gewohnt, den vermeintlichen Königsweg eines "Höher, schneller, weiter" zu verfolgen, erleben wir eine irritierende Destrukturierung des Alltags. Niemand hätte vor Kurzem eine Welt ohne Theater oder Konzerte auch nur denken können, geschweige denn eine Welt ohne Fußball. Nun haben wir sie - und wir leben trotzdem weiter. Die Reflexion über dieses Zwangsexperiment, zu der Schule ein Forum bieten sollte, wäre eine wichtige Bedingung seiner bildenden Wirkung.
Oder die vor Kurzem noch intensive Diskussion über die Klimakrise. Sie erscheint fast völlig verstummt, obwohl jetzt persönliche Einschränkungen erzwungen werden, die denen der Klimaschutzforderungen entsprechen. Stärkt das unmittelbare Erleben dieser Begrenzungen möglicherweise die Bereitschaft zu Lebensformen, die auf eine Balance zwischen Ökologie und Ökonomie zielen? Auf der anderen Seite: Protektionismus und ökonomischer Nationalismus nehmen zu, Europa rückt eher auseinander als zusammen. Ist das politisch noch aufzuhalten? Schließlich beobachten wir ein zunehmend gespanntes Verhältnis zwischen dem Recht des Einzelnen auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und staatlichen Notstandsregelungen. Wie kann da immer die Verhältnismäßigkeit gesichert werden?
Solche Fragen eröffnen eine didaktische Perspektive, die bisher, wo wir im Organisationsmodus agieren, natürlich völlig fehlt. Aber sie sollte in Zukunft mitbedacht werden. Die bildende Kraft solchen Orientierungswissens ist unbestritten, jetzt kann es durch die Nähe zu gemeinsamen Erfahrungen aller unmittelbar wirksam werden. Gerade für die Fächer Religion, Politik und Philosophie, aber auch Erdkunde und Biologie ergeben sich aus der aktuellen Situation fundamentale Fragen, die in Unterricht zu übersetzen wären. Einen klareren Bildungsauftrag hatte die KMK selten zu vergeben.