Am 19. August 2019 ging ein außergewöhnlicher Brief aus dem Ministerium an sämtliche Schulen in Rheinland-Pfalz. Ein Professor, hieß es darin, habe um die Ergebnisse der Vergleichsarbeiten gebeten, die Schülerinnen und Schüler landesweit Jahr für Jahr schreiben. Bislang waren sie unter Verschluss, und so hätte es auch bleiben sollen. Doch der Professor drohte mit einer Klage. Und das Land wollte nicht vor Gericht landen.
"Um einen Rechtsstreit mit ungewissem Ausgang zu vermeiden", schrieb der hohe Beamte, habe man sich "auf einen Kompromiss verständigt, durch den Interessen beider Seiten gewahrt werden können". Die Schulen hätten zwei Wochen Zeit zu widersprechen, wenn die Ergebnisse aus ihren Vergleichsarbeiten nicht für die Forschung genutzt werden sollen. Die wenigsten machten sich diese Mühe, am Ende bekam der Forscher Zugang zu den Daten. Wenn auch nach hartem Kampf.
Eigentlich hätte es auch für die Verantwortlichen im Mainzer Ministerium interessant sein können, was Horst Weishaupt, Professor für Empirische Bildungsforschung, herausfinden will: Wovon hängt es ab, ob Schüler bei den Tests gut oder schlecht abschneiden? Wie gut lernen Kinder und Jugendliche an Brennpunktschulen? Was könnte ihnen helfen? Doch die Politik hütet die Daten wie ein Staatsgeheimnis. Nicht nur in Mainz. "Die Kultusminister wollen weiterhin, dass Forschungsfragen, die für ihr politisches Handeln wichtig sind, nicht untersucht werden", sagt Weishaupt. Der Wissenschaftler ist inzwischen erfinderisch geworden: Er bittet Landtagsabgeordnete, die Daten für ihn anzufordern - parlamentarische Anfragen können Ministerien nicht so einfach abblocken wie die E-Mail eines Professors. Weishaupt ist 72, längst emeritiert und daher einer der wenigen, die offen Kritik äußern. Andere klagen hinter vorgehaltener Hand, dass Bildungspolitik viel zu oft wie im Blindflug betrieben werde - weil die Minister viel tun, um die Wissenschaft draußen zu halten.
Dabei werden die Schulen in Deutschland so sehr vermessen wie nie zuvor, Forscher gehen mit langen Fragebögen und ausgeklügelten Tests in den Klassenzimmern ein und aus. 223 weiterführende Schulen nahmen vor gut zwei Jahren an der Pisa-Studie teil. Und in den nächsten Monaten lassen die Kultusminister, wie alle paar Jahre, deutschlandweit Zehntausende Viertklässlerinnen und Viertklässler testen. Zwei Tage lang, jeweils drei Stunden, Mathematik an dem einen, Deutsch am anderen Tag. Daten, Daten, Daten.
Im Bildungsföderalismus lernen die Länder angeblich voneinander. Überprüfen lässt sich das kaum
Als die Ministerrunde vor zwei Jahren die Ergebnisse des letzten Grundschulvergleichs vorstellte, fielen die Leistungen mau aus - doch die deutsche Kleinstaaterei wurde prompt zu einer Lösung des Problems proklamiert. "Die Länder werden die große Stärke des Bildungsföderalismus nutzen, im Wettbewerb der Ideen voneinander zu lernen", versprach Baden-Württembergs Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU). Es ist das Standardargument dafür, warum in einem Staat 16 verschiedene Bildungssysteme existieren: Man kann schauen, wer es am besten macht, und sich daran orientieren.
Nur passt das nicht so recht zur Praxis: Die Daten des Grundschulvergleichs und vieler weiterer Schulstudien liegen beim Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) in Berlin, das die 16 Länder gemeinsam gegründet haben. Bildungsforscher können sie beantragen und für eigene Untersuchungen auswerten - meistens sogar relativ problemlos. Nur wenn sie Länder miteinander vergleichen wollen, wird es kompliziert: Dann müssen sie aufwendig begründen, warum die Nennung der Länder "aus wissenschaftlichen Gründen zwingend notwendig erscheint". Zwei andere Wissenschaftler überprüfen als Gutachter den Antrag, das letzte Wort haben im Zweifel die Vertreter der Kultusminister. Ein reines Ranking ist nicht gestattet. Die Länder fürchten mangelnde Fairness, etwa wenn Leistungen von Schülern in einer Stadt mit vielen Zuwanderern denen von Schülern in einem Flächenland gegenübergestellt werden.
Wie die Antragsmühle funktioniert, zeigt das Beispiel der beiden Wirtschaftsdoktoranden Marcus Roller und Daniel Steinberg. Sie kamen auf die Idee zu einer Untersuchung, als sich einer von ihnen an eine Bildungsreform aus seiner Schulzeit in Niedersachsen erinnerte: Dort wurden Kinder lange Zeit erst nach der sechsten Klasse auf die weiterführenden Schulformen verteilt. Erst seit 2004 gehen ihre Bildungswege schon nach der vierten Klasse auseinander - wie in den meisten anderen Bundesländern auch. Roller und Steinberg formulierten die Frage: Gab es in Niedersachsen nach der Reform Veränderungen in den Leistungen, die in anderen Ländern im gleichen Zeitraum nicht zu beobachten waren?
Die einzigen Daten für die Untersuchung lagen beim IQB. Einen 30-seitigen Antrag schrieben die Doktoranden. Er wurde bewilligt. Doch in den riesigen Tabellenwerken mit Tausenden Werten von Schülern aus allen Ecken der Republik, die sie zur Auswertung bekamen, fehlte die Kennung für die Bundesländer. Die Forscher mussten ein kompliziertes Fernrechenverfahren anwenden: Roller schrieb die entsprechenden Befehle in einem Statistikprogramm und schickte den Code an das IQB. Das wertete die Daten aus und prüfte in den Ergebnistabellen, ob sie wirklich keine unerlaubten Länderwerte enthielten, sondern nur, was vertraglich genehmigt war. Erst dann schickte das IQB den Forschern die Zahlen zurück. Das wissenschaftliche Hochsicherheitsverfahren mutete an, als wären die Daten der Länder Waffen, die nicht in falsche Hände gelangen durften.
Die beiden Ökonomen stellten einen zweischneidigen Effekt der früheren Schüleraufteilung fest: Nach der Reform wurden die Leistungen guter Schüler in Niedersachsen im Vergleich zu anderen Ländern etwas stärker, die Leistungen schlechter Schüler schwächer. Das Duo reichte seine Studie bei einer internationalen Fachzeitschrift ein - deren Gutachter mit den Empfindlichkeiten im deutschen Bildungsföderalismus offenbar nicht vertraut war: "Er hätte gern noch die Resultate der übrigen Länder gesehen", sagt Roller. Also schickte er seine Befehle für das Statistikprogramm noch einmal über das Fernrechensystem. Zurück kam eine Grafik, in der die Bundesländer statt Namen Nummern trugen. Beklagen will sich Roller nicht, die IQB-Kollegen seien kulant gewesen. Umständlich fand er das Ganze aber schon.
Gut möglich, dass die hohen Hürden viele Forscher von Untersuchungen abschrecken
Tatsächlich erhielt das IQB seit 2013 erst vier Anträge von Forschern, die Länder miteinander vergleichen wollten. Einer wurde abgelehnt, drei wurden genehmigt. Das ist überschaubar angesichts der 69 Datenanfragen ohne Ländervergleiche, die das Institut zuletzt in nur einem Jahr erhielt. Gut möglich, dass der von Kultusministerin Eisenmann beschworene "Wettbewerb" die Öffentlichkeit mehr interessiert als die Wissenschaft. Möglich aber auch, dass viele Forscher es wegen der hohen Hürden erst gar nicht versuchen.
Ein Professor, der anonym bleiben will, berichtet, dass er gern die Einstellungen der Lehrer zu einer bestimmten Reform untersuchen möchte. Das Urteil der Pädagogen fällt offenbar von Land zu Land unterschiedlich aus - bloß warum? Mit IQB-Daten könne er die Frage leicht beantworten. "Ich hätte das auch längst gemacht, wenn es nicht so kompliziert wäre", sagt er. "Man könnte da sehr viel mehr rausholen, wenn die Politik nicht so ängstlich wäre." Schon 2016 bemängelte der Wissenschaftliche Beirat des Wirtschaftsministeriums, dass die Länder mauern - und verwies auf Beispiele im Ausland, die zeigten, wie sehr sich Schulen durch mehr Transparenz besserten. "Ob, in welchem Ausmaß und wo die Ziele der Bildungspolitik in Deutschland heute erreicht werden, wissen wir daher nicht", schrieben die Ökonomen.
Auch beim Nationalen Bildungspanel, einer großen Datensammlung mehrerer Universitäten und Forschungsinstitute, bei der Schüler und Studierende über viele Jahre hinweg begleitet werden, verbieten die Länder den Vergleich. Bei Verstoß drohen Vertragsstrafen "in Höhe von bis zu 100 000 Euro". Die Daten werden schon so erhoben, dass viele repräsentative Vergleiche gar nicht möglich wären - auch zum Bedauern der Forschenden. "Wir können die Rechnung nicht ohne den Wirt machen und das ist der Preis, den wir dafür bezahlen müssen", sagt Cordula Artelt, Projektleiterin des Bildungspanels. Scharfe Kritik daran kam vom Wissenschaftsrat, dem höchste Beratungsgremium der Politik für Forschungsfragen: "Der Wissenschaftsrat hält es für unabdingbar, dass länderspezifische Informationen den Nutzerinnen und Nutzern nicht nur zur Verfügung gestellt, sondern auch Publikationen entsprechend wissenschaftlicher Standards ermöglicht werden", hieß es bereits 2013 in einer Stellungnahme. Doch die Forderung verhallte ungehört.
Der Professor erzählt dann noch von einem einschneidenden Erlebnis. Von der Abteilungsleitung eines Kultusministeriums habe er einmal ohne großes Zögern Daten für eine Untersuchung bekommen. Die Studie schlug Wellen, und mit einem Mal habe man ihm angedeutet, dass die Ministerin keine weitere Forschung von ihm wünsche. "Da ist die Erde verbrannt", sagt er. "Ich habe daraus gelernt, dass man vorsichtig sein muss."
Ein anderes Bundesland sei kooperationsbereiter. Die gewünschten Daten bekam er problemlos, ohne Vorgaben und Einschränkungen. Mit einer Ausnahme: Bitte nichts vor der Wahl veröffentlichen.