Süddeutsche Zeitung

Schulen:Mission letzte Chance

An einer Mannheimer Berufsschule schaffen viele Jugendliche den Abschluss, die sonst überall durchs Raster gefallen sind. Wie gelingt ihr das?

Von Fabian Busch

Der Metallrahmen ist fertig, jetzt fehlt noch die Rückwand. Wenn alles so weit ist, sollen die Schüler einen Schlüsselkasten aus dem Unterricht mit nach Hause nehmen. Mit rotem Edding malen sie den Umriss des Rahmens auf eine Metallplatte. "Und jetzt?", fragt Fabian Reinke. "Schneiden", antwortet Julian. Reinke zeigt auf die große Metallschere am Werktisch. Die Schüler zögern noch. "Traut ihr euch das zu? Probiert's mal!"

Fabian Reinke, graue Haare, Blaumann-Jacke, Turnschuhe, war früher Metallbaumeister. Als er einen Austausch für junge Handwerker leitete, lernte er die Arbeit mit Jugendlichen schätzen - und wurde Lehrer. Jetzt unterrichtet der 55-Jährige in der Metallwerkstatt der Justus-von-Liebig-Schule in Mannheim. Seine Ansprache ist deutlich, seine Geduld groß, Lob gibt es reichlich. Vor allem gehe es in seinem Job um Beziehungsarbeit, sagt er. Für einige Schüler ist das hier die letzte Chance. "Die wissen: Jetzt müssen sie irgendwie schauen, dass sie wieder in die Spur kommen."

Die Justus-von-Liebig-Schule ist ein siebenstöckiger Kasten aus gelbbraunen Klinkersteinen unweit des Mannheimer Neckarufers. Rund 1400 junge Menschen lernen hier, viele nur in Teilzeit, parallel zur Ausbildung als Friseur, Bäcker oder Speiseeis-Fachkraft. Zu den besonderen Kompetenzen der Beruflichen Schule gehören die jungen Leute, um die andere gerne einen Bogen machen: Schüler, die im "Vorqualifizierungsjahr Arbeit/Beruf" - kurz VAB - den Hauptschulabschluss machen können, den sie vorher nicht geschafft haben.

Andere Berufliche Schulen in Baden-Württemberg haben wenige dieser Klassen, die Justus-von-Liebig-Schule hat derzeit 22. Damit ist Peter Kapp für mehr als 400 Schüler zuständig. Auch der 52-Jährige ist Quereinsteiger: Er war Bauingenieur, bis ihm sein Bürojob zu trocken wurde. Jetzt leitet er die Abteilung für Berufsorientierung. Schon seine Vor-Vorgängerin habe entschieden, "dass wir uns diese Schüler nicht vom Hals halten wollen". Er würde sie nicht mehr hergeben wollen, sagt Kapp. "Ich bin stolz darauf, dass wir das machen. Das ist unser Spielfeld."

Mehr als 50 000 junge Menschen haben dem Statistischen Bundesamt zufolge 2018 in Deutschland die Schule ohne Abschluss verlassen - 6,8 Prozent der gleichaltrigen Bevölkerung. In Mannheim lag die Quote einer Caritas-Studie zufolge 2017 sogar bei 9,6 Prozent. Die meisten dieser Jugendlichen landen an der Schule, die in der Stadt nur "die Justus" genannt wird. Dass die Zahl der jungen Menschen ohne Abschluss seit einem Tiefstand 2013 bundesweit wieder angestiegen ist, führt die Caritas vor allem auf Zuwanderung und Fluchtbewegungen zurück. Da ist zum Beispiel der 18-Jährige aus Somalia, der im Mathematik-Unterricht bei Peter Kapp in der ersten Reihe sitzt. "Ich lerne viel hier", sagt er: die deutsche Sprache, Mathematik, die Arbeit am Computer. Doch er hat viel aufzuholen: In Somalia habe er nur ein Jahr lang eine Schule besucht. Neben ihm sitzt ein 16-Jähriger, der 2017 aus dem Irak kam. Er hat zunächst eine Werkrealschule besucht, dort riet man ihm, es hier zu versuchen. Sein Deutsch ist gut, ein Berufsziel hat er auch: Zerspanungsmechaniker, die ersten Bewerbungen sind schon raus.

Die "Justus" besuchen zudem ehemalige Förderschüler, die noch Probleme beim Lernen haben. Aber auch frühere Gymnasiasten, bei denen familiäre Probleme dazu führten, dass es in der Schule zuvor nicht geklappt hat. Die meisten Jugendlichen der VAB-Klassen sind nicht freiwillig hier, sondern weil sie bis zum Alter von 18 berufsschulpflichtig sind. Eine Statistik gibt es nicht, aber an der Justus-von-Liebig-Schule schätzt man, dass etwa die Hälfte von ihnen hier noch den Abschluss schafft.

"Etwas großzügigere Toleranzgrenze, was ordnungsgemäßen Schulbesuch angeht"

Wie gelingt, was an anderen Schulen scheitert? Metallbau-Lehrer Fabian Reinke glaubt, dass die praktische Arbeit viele Schüler motiviert. Deutsch, Mathematik und Englisch stehen auch hier auf dem Stundenplan, aber ebenso Praktika und handwerklicher Unterricht. Außerdem habe man eine "etwas großzügigere Toleranzgrenze, was ordnungsgemäßen Schulbesuch angeht", erklärt Schulleiterin Marianne Sienknecht. "Wir freuen uns, wenn ein Schüler kommt - auch wenn das eine halbe Stunde zu spät ist." Das solle nicht heißen, dass man nachlässig mit Regeln umgehe. "Aber wenn Sie jemanden, der zu spät kommt, in den Senkel stellen, dann macht der dicht. Wenn die Schüler dagegen merken, dass sie trotzdem gewollt sind, kann es sein, dass sich ein Schalter umlegt."

In einer Klasse sitzen in der Regel 18 bis 20 Schüler. Da aber selten alle da sind, sind es oft weniger. Unterstützung bekommen die Lehrkräfte vom sonderpädagogischen Dienst: Sechs Sonderpädagogen sprechen bei Bedarf mit auffälligen Schülern oder helfen ihnen im Unterricht - Julia Köller ist eine davon. "Wenn ein schwächerer Schüler den Dreisatz einfach nicht versteht, drösele ich das didaktisch so auf, dass es für ihn passt." Sie nennt aber auch das Beispiel eines Jugendlichen mit ADHS. Ihm fehlte das Bewusstsein dafür, dass er im Unterricht ständig dazwischenredete. Mit ihm und den Lehrkräften vereinbarte Köller ein Signal. Ein "Tupfer" auf die Schulter signalisiert ihm: jetzt bitte Ruhe.

Der Schulleiterin ist wichtig, dass zukünftigen Lehrkräften bewusst ist, worauf sie sich einlassen

Die Schule arbeitet zudem mit einer freien Jugendberufshilfeeinrichtung zusammen, dem Förderband. Dessen Sozialarbeiter helfen Schülern bei Bewerbungen oder besuchen notorische Schwänzer zu Hause. Letztlich ist der Bildungserfolg auch hier eine Frage der personellen Ausstattung. Neben den VAB-Klassen bietet die Justus-von-Liebig-Schule die "Ausbildungsvorbereitung dual" an. Dahinter steckt ein Bildungsgang, den Baden-Württemberg seit 2014 an 53 Standorten testet. Auf dem Plan stehen viele Praktika, auf 40 Schüler kommt ein Sozialarbeiter. Landesweit bekommen im Schnitt 36 Prozent der Absolventen eine Ausbildungsstelle - an der "Justus" waren es zuletzt 66 Prozent.

Vielleicht ist es eine Stärke der Schule, dass hier niemand die Augen vor der Realität verschließt. Die Polizei ist regelmäßig da, immer wieder gibt es Schlägereien und Drogenhandel. Schulleiterin Marianne Sienknecht ist wichtig, dass zukünftigen Lehrkräften bewusst ist, worauf sie sich einlassen. Ein "Standing", eine gewisse Frustrationstoleranz, müsse man mitbringen. Nicht immer können sich Lehrkräfte über schnelle Erfolge freuen. Hat ein junger Mensch es doch noch zum Hauptschulabschluss geschafft, ist das noch keine Garantie, dass auch der Weg in den Beruf gelingt. Es geht zunächst um eine Perspektive, sagt Abteilungsleiter Peter Kapp. Um eine Idee, wie es weitergehen könnte.

Zeynep Tan unterrichtet in einer VAB-Klasse für Sprachanfänger. 15 Stunden Deutsch stehen pro Woche auf dem Stundenplan, viel Zeit, um Kontakte zu ihren Schülern aufzubauen. "Man kann ihnen keinen Raum zum Lernen geben, wenn die Beziehungsebene nicht stimmt", sagt sie. Enttäuschungen und Erfolge - beides gehört zu ihrem Berufsalltag: Sie hat miterlebt, wie Schüler trotz Berufsperspektive abgeschoben wurden. Sie erinnert sich aber auch an einen jungen Mann aus Gambia. Er kam nach dem Abschluss noch einmal in die Schule, ging ins Sekretariat und ließ seine frühere Lehrerin ausrufen. Sofort musste er es ihr erzählen: Es hatte endlich geklappt mit dem Ausbildungsplatz.

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SZ vom 02.03.2020/berk
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