Süddeutsche Zeitung

Schule:Aufstieg durch Bildung - Dieses Versprechen muss Deutschland halten

Das deutsche Bildungssystem ist dort besonders ungerecht, wo die Schüler Förderung besonders nötig haben. Höchste Zeit, das zu ändern.

Kommentar von Paul Munzinger

Noch eine Woche, dann bekommen auch die Schüler in Bayern und Baden-Württemberg zu spüren, was Kinder und Jugendliche im Rest Deutschlands bereits erleben mussten: Selbst die längsten Sommerferien enden einmal. Doch mit dieser schmerzlichen Erfahrung zu Beginn des Schuljahres hören oft schon die Gemeinsamkeiten auf, die Schüler im ganzen Land verbinden. Das eine Kind wird dann Tag für Tag in eine Schule gefahren, wo der Beamer funktioniert und die Decke dicht hält. Das andere verlässt das Haus ohne Frühstück, kommt zu spät im Klassenzimmer-Container an, und wird unterrichtet von einem Lehrer, der kein Lehrer ist. Mit welchem Gefühl es wohl am Nachmittag nach Hause geht?

Ihr seid die Zukunft - das ist einer der Sätze, die man Kindern zu Schulanfang mit auf den Weg gibt. Der Alltag im Klassenzimmer erzählt vielen von ihnen jeden Tag aufs Neue eine ganz andere Geschichte: Bildung, Chancen, Integration? Für euch eher nicht. Die Geschichte ist aus zahllosen Studien bekannt und gerät doch im allgemeinen Getöse immer wieder in Vergessenheit. Der Lehrermangel ist nun immerhin ein Thema, über das diskutiert wird - spätestens seit Volker Kauder, Unionsfraktionschef im Bundestag, vor einem dräuenden "Bildungsnotstand" warnte. Doch auch das ist für die oft erschütternd müde Bildungsdebatte bezeichnend: Es braucht einen Berliner Politiker, der gar nicht für Bildung zuständig ist, um das Thema aus der föderalen Kleinteiligkeit auf die Ebene zu heben, auf die es gehört: die große Bühne.

Nein, es gibt in Deutschland keinen allgemeinen Bildungsnotstand. Aber es gibt viele größere und kleinere Notstände, die daran zweifeln lassen, dass die Politik ihrer Verantwortung für die Zukunft des Landes gerecht wird. Der Lehrermangel ist einer davon, und er legt zwei Grundprobleme des Schulwesens schonungslos offen. Er zeigt erstens, wie leicht ein System an seine Grenzen und über diese Grenzen hinaus gerät, das notorisch auf Kante genäht ist. Ja, die Schülerzahlen steigen, durch Zuwanderung, durch Flüchtlinge, weil mehr Kinder geboren werden. Doch als der Trend noch in die andere Richtung wies, hätten die Länder die Chance gehabt, Lehrer zu halten und die Unterrichtsversorgung krisenfest zu machen. Sie haben lieber gespart - und bekommen jetzt die Rechnung.

Der Lehrermangel steht zweitens dafür, dass das Primat des Knauserns vor allem jenen Schulen zusätzliche Lasten aufbürdet, die an ihren Aufgaben ohnehin schwer zu tragen haben. Während den Gymnasien kaum Lehrer fehlen, trifft der Mangel Grundschulen, Förderschulen, Schulen in Problembezirken. Das sind jene Schulen, wo besonders viel zu gewinnen - und besonders viel zu verlieren ist. Sie legen die Grundlage aller Bildung, vor allem sie müssen die Vielfalt in heutigen Klassenzimmern bewältigen, in denen Kinder sitzen, die zu Hause kein Deutsch lernen, deren Eltern von Hartz IV leben, die, wie man so sagt, einen schweren Rucksack mitbringen.

Dies überfordert viele Lehrer. Davon zeugen die Brandbriefe aus den Kollegien, die regelmäßig über Bedingungen klagen, unter denen sie keinem Kind gerecht würden. Das schreckt diejenigen ab, die irgendwann einmal vor diesen Klassen stehen könnten. Der Lehrermangel wird zum Problem, das sich selbst reproduziert. Und ausgerechnet an diesen Schulen, wo weniger Fachwissen als vielmehr Einfühlungsvermögen gefragt ist, unterrichten nun in großer Zahl Seiteneinsteiger - Uni-Absolventen, die Mathe können, aber nie ein Pädagogik-Seminar besucht haben. So entstehen Schulen, von denen keiner ernsthaft verlangen kann, soziale Unterschiede auszugleichen.

Eine Schule, die dem Duisburger Einwandererkind die gleichen Chancen einräumt wie der Starnberger Arzttochter, gibt es nicht. Doch das Versprechen, Aufstieg durch Bildung zu ermöglichen, ist einer der Pfeiler, auf denen die Demokratie ruht. In Deutschland wird es zu oft gebrochen, hängt der Bildungserfolg von Kindern zu häufig von der Lage ihrer Wohnung und der Zahl der Bücher in den Regalen der Eltern ab - mit fatalen Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Damit nicht schon die Schule Abgehängte hervorbringt, braucht es aber nicht einfach mehr Geld. Es braucht vor allem eine sinnvollere Verteilung.

An den Schulen muss Ungleiches ungleich behandelt werden

In der deutschen Bildungspolitik herrscht das Prinzip Gießkanne. Jede Schule erhält gleich viel, für Lehrer, Möbel, Technik - egal wo sie liegt, egal wer sie besucht. Das ist absurd. Wer Bildung tatsächlich gerechter machen will, sollte den Mut haben, an den Schulen Ungleiches ungleich zu behandeln - eine Forderung, die mit gutem Grund immer öfter zu hören ist. Der sollte dort die kleinsten Klassen schaffen, wo die Herausforderungen am größten sind. Der sollte Lehrern und Schülern da die besten Bedingungen bieten, wo es am meisten brennt. Und er sollte den Pädagogen so, Stichwort Lehrermangel, jenseits des Idealismus einen Grund liefern, dort zu arbeiten - und nicht am Gymnasium in Premiumlage, dessen Kasse die solventen Eltern aufbessern.

In einigen Bundesländern wird das schon versucht. Es gibt zusätzliche Lehrerstunden für Schulen in Problemlagen, es gibt eine Gehaltszulage für Lehrer in Brennpunktschulen. Doch bislang bleibt es bei Ansätzen. Das sollte sich ändern.

Die große Koalition will einen Bildungsrat einrichten, so steht es im Koalitionsvertrag. Er soll wissenschaftliche Erkenntnisse einbeziehen, ein wenig Ordnung in den Verhau des Bildungsföderalismus bringen. Und er soll "die Bildungschancen in Deutschland im gemeinsamen Schulterschluss von Bund und Ländern verbessern". Wie das geschehen soll, steht nicht im Koalitionsvertrag. Und doch besteht die Hoffnung, dass dem Bildungsrat eines gelingen kann: Bühne zu sein für die großen Fragen des Bildungssystems. Weil es die großen Fragen für die Zukunft dieses Landes sind.

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SZ vom 01.09.2018/mkoh
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