Ein bisschen gewundert hat sich Anna Reiter schon. Ganze vier Mal steht auf dem Zettel, den sie vor den Sommerferien bekommen hat, dass sie beim Kauf von Schulmaterialien für ihren angehenden Erstklässler auf sehr gute oder zumindest gute Qualität achten solle. Eigentlich ist das für die Mutter selbstverständlich. Wer will schon, dass der Sohn auf minderwertigem Papier rumschmiert oder in Schuhen Sport macht, die seine Gelenke schädigen? Dass es aber wichtig ist, von welcher Firma der Malkasten ist, war Anna Reiter bisher nicht bewusst.
Materiallisten werden zum Intelligenztest für Eltern
"Die Lehrerin erklärte mir, dass die Farben bei Markenware kräftiger seien und mein Sohn sich benachteiligt fühlen würde, wenn er mit einem billigen Kasten auskommen müsste", berichtet sie und schüttelt den Kopf. Ob ein Sechsjähriger das tatsächlich gemerkt hätte? Egal, Anna Reiter, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, hat zum teuren Produkt gegriffen. Schließlich lebt sie in einem kleinen Dorf, da soll keiner auf die Idee kommen, sie würde nicht alles für den schulischen Erfolg ihres Kindes tun.
In diesen Tagen ist Endspurt. Wenn am Dienstag die Schule beginnt, müssen die Eltern von Grundschülern alle Hefte, Ordner und Stifte besorgt haben. In den meisten Fällen haben sie die Materiallisten schon vor den Ferien bekommen, einige Schulen bieten die Verzeichnisse auch zum Herunterladen im Internet an. Zeit ist eigentlich genug, um alle Besorgungen zu erledigen. Die Detailschärfe der Listen aber überfordert Familien zunehmend. Sie werden quasi zum Intelligenztest für die Eltern - zur ersten Hürde auf dem Weg zum Abitur.
Ein normaler Block tut es nicht mehr
Früher, da hat man sich zwischen weißen Heften und welchen aus gräulichem Umweltpapier entschieden, letzteres war eher unbeliebt, weil die Spuren des Tintenkillers zu leicht zu sehen waren. Heute aber sollen Eltern auf "farbig hinterlegte Zeilen achten", der bunte Hintergrund "erleichtert den Kindern die Orientierung im Heft und in den Zeilen ungemein". Manche Schulen fordern eine weiße Wichtigmappe und dazu noch eine Jurismappe, die früher einfach Sammelmappe hieß. Ein normaler Block tut es auch nicht mehr, es muss ein Kieserblock sein, damit die Kinder oben in die dafür vorgesehenen Kästchen ihren Namen, das Datum und die Blattnummer eintragen können.
Auch der Kampf ums richtige Federmäppchen hat sich offenbar in den vergangenen Jahren noch verschärft. Die bei Schülern so beliebten Schlamperrollen, in die sie die Stifte einfach hineinwerfen können, bleiben verboten. Ebenfalls nicht erwünscht sind Mäppchen mit zwei Reißverschlüssen. Eltern sollen lieber auf das Standardmodell zurückgreifen. Und ganz wichtig: den kompletten Inhalt beschriften, damit er nicht vertauscht wird.
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Zudem sollen die Kinder eine Kreidetafel haben ("vorne Lineatur für die erste Klasse, hinten Karos"), aber bitte ohne Schwämmchen, Lappen oder Döschen. Wer sich das Geld sparen will, kann auf Anraten der Schule in der Nachbarschaft herumfragen, schließlich brauchten die Schüler der zweiten Klasse ihre Tafeln nicht mehr. Gleiches gilt - er existiert tatsächlich noch - für den Lesekasten, der früher Setzkasten hieß.
Nach Angaben des Kultusministeriums gibt es keine allgemeingültigen Regeln, welche Schulsachen zu besorgen sind. Das entscheiden die Schulen in Eigenverantwortung. "Die Schüler sollen nicht überfordert werden", sagt ein Sprecher. Kinder in der ersten Klasse könnten zum Beispiel noch nicht notieren, welche Hefte sie brauchten. Deshalb bekommen die Eltern eine komplette Auflistung und müssten dann nur einmal losziehen.
Wer heute Schulsachen kaufen will, braucht fast schon ein Lexikon, um all die Wörter, die sich auf den Listen befinden, zu entschlüsseln - und einiges an Geld. Nur Kinder von Hartz-IV- und Sozialhilfe-Empfängern sowie Asylbewerber bekommen einen Zuschuss von 100 Euro pro Schuljahr aus dem Bildungs- und Teilhabepaket - in München sind das 31 000. Alle anderen müssen Schulsachen selbst bezahlen - trotz Lehrmittelfreiheit.
Die meisten Eltern gehen heute aber gar nicht mehr selbst mit ihren Kindern einkaufen. Vorbei scheinen die Zeiten, in denen sich Sechsjährige in Massen durch die engen Regale des Schreibwarenhändlers um die Ecke drückten und lange überlegten, ob nun der rote Heftumschlag in Plastik (unifarben) oder in Pappe (mit Muster) besser aussieht. Und ob man den lilafarbenen oder doch lieber den türkisen Fineliner will (die Farben sind mittlerweile von der Schule vorgegeben).
Einkaufsdienste sind stark nachgefragt
Eltern setzen heute zunehmend auf Einkaufsdienste, die fast alle Warenhäuser und Schreibwarenläden anbieten. Bei Galeria Kaufhof heißt das Angebot "Schullisten-Service", bei der Drogeriekette Müller schlicht "Müller-Service". Familien geben dort einfach die Listen in den Geschäften ab, ein paar Stunden später oder am Tag darauf können sie die von Fachleuten zusammengestellten Komplettpakete abholen.
"Es gibt eine hohe Nachfrage nach diesem Service-Angebot", sagt eine Sprecherin von Kaufhof. Zwischen 55 und 75 Euro bezahlen die Eltern für die Erstausstattung eines Erstklässlers - ohne Schulranzen, Schultüte und Sportbekleidung, versteht sich. Bei Müller gibt es das Gesamtpaket bereits von 30 bis 40 Euro an, sagt Helmut Glaser, Einkaufleitung der Abteilung "Non Food". Auch hier das gleiche Bild: Wegen der Vielzahl der Artikel und den komplizierten Angaben auf den Schullisten nutzen viele Eltern den Einkaufsservice.
Bei Kaut-Bullinger in der Rosenstraße gibt es ein ganz spezielles Angebot. Dort können Eltern gemeinsam mit Kind und einem Verkäufer die Schulsachen zusammensuchen. Die Fachleute beraten bei den richtigen Lineaturen von Heften, bei Buchumschlägen oder bei Spezialprodukten für Linkshänder. "Vor allem macht es den Kindern Freude, dass sie sich ihr Arbeitsmaterial selbst aussuchen können", sagt Geschäftsführerin Christin Lüdemann. Gerade bei Linealen, Radiergummis und Blöcken mit Motiven hätten die Kleinen ganz konkrete Vorstellungen. Die Freude beim Einkauf, da ist Lüdemann sicher, schaffe eine Begeisterung für die Schule.
Und die Eltern? Die können eigentlich nur auf die weiterführende Schule hoffen. Von der fünften Klasse an bekommen die Kinder in der Regel keine Materiallisten mehr, sondern sie sollen lernen, ihre Schulsachen selbst zu besorgen. Dann wird der Einkauf im September also entspannter - und ist nicht mehr ganz so streng mit Vorgaben belastet.