Schul-Streitigkeiten:Wenn Eltern mit dem Anwalt kommen

Lehrer

Unter Beobachtung: Immer mehr Eltern verfolgen kritisch, was und wie Lehrer unterrichten.

(Foto: dpa)

Klassenarbeiten werden auf Konzeptionsfehler durchforstet, Pädagogen als unfähig dargestellt: Immer mehr Familien gehen juristisch gegen die Schulen ihrer Kinder vor. Der bayerische Lehrerverband hat deshalb seine Rechtsabteilung aufgestockt.

Von Tina Baier

Das Telefon der Rechtsabteilung im Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) klingelt fast ununterbrochen. Jeden Tag melden sich Pädagogen, die eine Rechtsberatung brauchen - meistens geht es um Auseinandersetzungen mit Eltern. Früher war die Abteilung ein Ein-Mann-Betrieb. Mittlerweile arbeiten dort sechs Leute. "In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Zahl der Rechtsfälle vervierfacht", sagt Hans-Peter Etter, der die Abteilung leitet. Es gebe bei den Eltern "eine Tendenz, Entscheidungen der Schule rechtlich zu hinterfragen".

Anders ausgedrückt: Immer mehr Eltern nehmen sich einen Anwalt und klagen gegen Lehrer ihrer Kinder.

Zum Beispiel das Ehepaar, das vor Gericht zog, um seine Tochter aufs Gymnasium zu klagen. Das Mädchen hatte im Übertrittszeugnis der vierten Klasse nicht den erforderlichen Notenschnitt von 2,33. In einer 40-seitigen Klageschrift habe der Anwalt der Lehrerin vorgeworfen, dass ihr Unterricht nicht kindgerecht sei, dass sie fehlerhaft arbeite und inkompetent sei, sagt Etter. Sämtliche Proben (unangekündigte Leistungstests), die das Mädchen in der vierten Klasse geschrieben hatte, seien auf Fehler der Lehrerin durchforstet worden.

Fassungslose Lehrer

Unter anderem habe der Anwalt eine gängige Prüfungsfrage zum Thema Verkehrserziehung bemängelt: "Du fährst mit dem Fahrrad auf einen Fußgängerüberweg zu. Wie verhältst du dich?" Drei Punkte sollten die Kinder in ihrer Antwort erwähnen: Bremsbereit sein, Blickkontakt mit Fußgängern aufnehmen, anhalten. Der Anwalt kritisierte, in der Frage sei nicht erwähnt, dass Fußgänger am Zebrastreifen stehen. Deshalb sei das mit dem Blickkontakt wirklich zu viel verlangt.

Das Verfahren dauerte zwei Jahre. Am Ende gab das Gericht den Eltern recht - die Lehrerin war fassungslos. Das Mädchen durfte dann doch noch von der Realschule auf das Gymnasium wechseln.

"Das Übertrittszeugnis in der vierten Klasse ist mit Abstand der häufigste Grund, aus dem Eltern einen Anwalt einschalten", sagt Etter. "Wenn sich abzeichnet, dass das Kind den Übertritt aufs Gymnasium nicht schafft, suchen die Eltern die Schuld bei der Lehrerin."

"Was soll Frage 5?"

Dritt- und Viertklassenlehrerinnen können dazu unendlich viele Geschichten erzählen. Etwa die über einen Vater, der die Schule noch nie betreten hatte, bis er eines Tages der Meinung war, sein Sohn habe in einer für den Übertritt relevanten Probe einen halben Punkt mehr verdient. Er stürmte in die Schule und stauchte die noch junge Lehrerin derart zusammen, dass sie anschließend im Lehrerzimmer in Tränen ausbrach.

Zum Alltag vieler Viertklasslehrer gehört auch, dass korrigierte Proben, die die Kinder zum Unterschreiben mit nach Hause bekommen, am nächsten Tag voller gelber Merkzettel kleben, auf die Väter oder Mütter Bemerkungen geschrieben haben wie: "Was soll Frage 5?"

"Zunehmend wenden Eltern sich aber gar nicht mehr direkt an die Lehrerin, sondern gleich an eine übergeordnete Behörde, etwa das Schulamt oder das Kultusministerium", sagt Etter. So wie der Vater, der direkt an das Kultusministerium schrieb, die Rektorin an der Schule seines Sohnes sei "eine despotische Herrscherin" und "pädagogisch völlig unqualifiziert".

Ministerium und Schulämter machen Druck

In vielen dieser Briefe gehe es offensichtlich darum, die Lehrerin schlecht zu machen, sagt Etter. Oft werde behauptet, sie telefoniere im Unterricht mit dem Handy, lese Zeitung oder verlasse das Klassenzimmer.

"Viele Lehrer vermissen da die Unterstützung ihrer Vorgesetzten", sagt Etter. Ministerium und Schulämter schickten solche Briefe zwar an die betroffene Schule, machten aber oft zusätzlichen Druck, etwa, indem sie eine Stellungnahme "innerhalb der nächsten zwei Tage einfordern". Bei Elternbeschwerden wolle man sich möglichst schnell einen Überblick über die verschiedenen Perspektiven verschaffen, um im Interesse der Bürger schnell handeln zu können, heißt es dazu aus dem Kultusministerium. Ziel sei aber immer, den Konflikt möglichst am Ort zu lösen.

Ursula Walther, Sprecherin des Bayerischen Elternverbands, rät aufgebrachten Eltern, grundsätzlich immer erst mit dem Lehrer oder der Lehrerin zu sprechen. Sie wird seit einiger Zeit öfter von Anwälten angesprochen, die sich auf Schulrecht spezialisiert haben - offensichtlich in der Hoffnung, dass sie von ihr an klagewillige Eltern weitervermittelt werden. "Der Gang zum Anwalt kann aber nur die allerletzte Option sein", sagt Walther. Allerdings seien ihr durchaus Fälle bekannt, in denen Lehrer entscheidenden Probearbeiten tatsächlich ungerecht benotet hätten.

Meistens einigen sich die Parteien, bevor es zu einer Gerichtsverhandlung kommt; oft lenken Schule oder Schulamt ein. Denn immer wieder kommt es vor, dass Eltern wegen formaler Fehler der Schule vor Gericht recht bekommen, obwohl sie aus pädagogischer Sicht im Unrecht sind.

Wie im Fall des Achtklässlers, der sich in einer Kabine der Mädchentoilette einsperrte und mit dem Handy Schülerinnen fotografierte, die in der Nachbarkabine aufs Klo gingen. Als der Schulleiter davon erfuhr, berief er noch am selben Tag eine Lehrerkonferenz ein. Das Kollegium beschloss, den Schüler für vier Wochen vom Unterricht auszuschließen. Die Eltern legten Widerspruch ein: Ihr Sohn habe sich in der Toilette geirrt und dann sei ihm auch noch das Handy aus der Tasche gefallen.

Zum Schrecken der ganzen Schule kamen sie damit durch. Nicht weil irgendjemand ihrer Version des Vorfalls Glauben schenkte, sondern weil der Schulleiter in der Aufregung Formalia nicht beachtet hatte: Unter anderem hatte er das Lehrerkollegium nicht schriftlich zur Konferenz gebeten.

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