Süddeutsche Zeitung

Sachsen:Brauchen sächsische Schüler mehr Demokratieunterricht?

Demokratieerziehung lief in Sachsens Schulen lange nebenbei. Doch die Ausschreitungen in Bautzen oder Clausnitz haben die Politik aufgeschreckt.

Von Ulrike Nimz

Eva kann ein Rad schlagen, einhändig, während sie telefoniert. Erik will später zur Bundespolizei, und Felix ist von geradezu verstörender Höflichkeit. Die 40 Jungen und Mädchen, die an diesem Morgen auf einem Grashügel im Innenhof einer Leipziger Jugendherberge sitzen, sind keine Problemkids, so viel ist klar. Sie sind zwischen 14 und 17 Jahren alt und so wach, wie man eben sein kann, wenn man zu viert in einem Zimmer schläft. "Ich bin wählerisch", heißt das Projekt, für das sie hier sind, freiwillig. Drei Tage lang werden sie nachts in Doppelstockbetten liegen und am Tag etwas über Doppelspitzen lernen, Workshops zu Parteiprogrammen, Wahlgrundsätzen und den Härten des Politikerberufs besuchen. Die Härten des Schülerdaseins bestehen aus Hühnerfrikassee und Nachtruhe um 22 Uhr.

Wenn das Wochenende vorüber ist, sollen die Schüler selbst vor ihre Klassen treten und eine 90-minütige Unterrichtsstunde zur Bundestagswahl halten. Eine, von der mehr bleibt als ein Schaubild oder Schlaffalten im Gesicht.

Mehr Politik in der Schule, das hat im vergangenen Jahr auch Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich versprochen. Man wolle Lehrpläne anpassen, um Platz für die politische Bildung zu schaffen. Diese Ankündigung war nicht das Ergebnis langfristiger Bedarfsplanung, sondern einer Sondersitzung des Sächsischen Landtages. Anlass waren die fremdenfeindlichen Ereignisse in Clausnitz und Bautzen im Februar 2016. Wie sieht es also aus in Sachsens Schullandschaft, knapp fünf Wochen vor der großen Wahl?

"Ich bin wählerisch" ist ein Projekt der Aktion Zivilcourage. Junge Menschen haben den Verein Ende der 90er-Jahre in Pirna gegründet, als Reaktion auf die Wahlerfolge rechtsextremer Parteien in der Sächsischen Schweiz. Spielerisch soll der Umgang mit politischen Themen ablaufen, jenseits muffiger Klassenzimmer, mit jungen Menschen aus verschiedenen Städten, mit unterschiedlichen Schullaufbahnen und Meinungen. Peer-Ausbildung nennen sie das, die Schüler sollen befähigt werden, sich kritisch und konstruktiv mit demokratischen Prozessen auseinandersetzen.

Und ohne Angst vor Klischees: Nach kurzer Aufwärmrunde sollen die Teilnehmer typische Wähler zeichnen. Kichern und Kritzeln, dann geht für die Grünen ein Dreadlock-Dude mit Joint ins Rennen, für die Linke ein Vorstadt-Irokese mit Nadel in der Nase. Der SPD-Mann trägt Aktentasche und Kind. Das Maskottchen der FDP ist ein Anzug ohne Kopf.

"Aktion Zivilcourage" versteht sich als überparteilich

Projekttage wie diese veranstaltet der Verein seit 2013, zunächst regional, nun das erste Mal sachsenweit. 600 weiterführende und berufsbildende Schulen hat das sechsköpfige Team in diesem Jahr angeschrieben. Die Antwortquote war ausbaufähig. Viele Lehrer sind unsicher, wenn außerschulische Träger an sie herantreten, und "Aktion Zivilcourage" klingt vielen zu links. Dabei versteht der Verein sich als überparteilich, die Bildungsarbeit ist ausgezeichnet, unter anderem mit der Theodor-Heuss-Medaille und dem Gustav-Heinemann-Bürgerpreis.

Stefan Zinnow steht am Fuß des Hügels. Er arbeitet für die Landeszentrale für Politische Bildung, die zum Projekt mit 25 000 Euro beisteuert. Vier Chefs hat Zinnow über die Jahre kommen und gehen sehen. Zuletzt Frank Richter, der als Vermittler zwischen Pegida und Politik auch außerhalb Sachsens gefragter Gesprächspartner war. Inzwischen hat Richter nicht nur die Landeszentrale verlassen, sondern auch die CDU. Gründe unter anderem: die Schulpolitik und der Lehrermangel.

Vielerorts füllen Quereinsteiger die Lücken, Betriebswirte und Biologen ohne didaktische Ausbildung. Weiterbilden müssen sie sich neben dem Job. Für Zinnow hat das auch Vorteile, frischer Wind in den Klassenzimmern. In gewisser Weise ist er ja selbst ein Quereinsteiger. Zinnow stammt aus Brandenburg, der Vater Diakon, die Mutter Pfarrerstochter, ihr Sohn kein Pionier und zur Wende in der Opposition aktiv. Die DDR wirke auch in der Schule nach, sagt Zinnow, nicht nur bei G 8, das nirgends selbstverständlicher funktioniert als im Osten. Aber es komme vor, dass gerade die ältere Lehrergeneration die Auseinandersetzung mit politischen Inhalten scheut, vielleicht Folge der ungeliebten "Staatsbürgerkunde", sagt Zinnow.

Tatsächlich lief Demokratieerziehung in den Schulen des Freistaats lange nebenbei. Oberschüler konnten das Fach Geschichte in der 10. Klasse abwählen. Und eine Faktensammlung der Konrad-Adenauer-Stiftung stellte 2014 heraus, dass an Sachsens Schulen weniger Wochenunterrichtsstunden in den Gesellschaftswissenschaften gehalten werden als im Rest des Landes. Ein damals oft zitiertes Rechenbeispiel: Hauptschüler in Niedersachsen haben in ihrer Schullaufbahn mit 400 Stunden zehnmal so viel Unterricht in politischer Bildung wie Hauptschüler in Sachsen. Im Kultusministerium wurden daraufhin Zweifel laut - an der Studie.

Selbstkritik zählt nicht zu den vordergründigen Stärken der sächsischen Landesregierung. Aber in der Bildung schien es dafür auch lange keinen Grund zu geben. In den Naturwissenschaften und Mathematik dominierte das Land innerdeutsche Leistungsvergleiche. Steffen Flath, früherer CDU-Kultusminister, umriss das sächsische Modell einmal wie folgt: "Gute Bildungspolitik muss vorsorgende Wirtschaftspolitik sein." Der Landesschülerrat diagnostiziert in der Rückschau "eine gewisse Selbstzufriedenheit" in der Politik. Neue Konzepte seien mit Verweis auf die erfolgreiche Kontinuität des Bildungssystems zurückgestellt worden.

Wer sich unter den Projektteilnehmern umhört, bekommt ein gemischtes Bild der Lage an sächsischen Schulen. Da ist Eva, die Tänzerin. Sie besucht ein Gymnasium in Leipzig und hätte gern mehr als die üblichen zwei Wochenstunden GRW - Gemeinschaftskunde, Rechtserziehung, Wirtschaft. Im Schneidersitz hockt sie auf der von der Sonne aufgeheizten Tischtennisplatte, im Schoß das Wahlprogramm der Grünen. "Wenn ich ehrlich bin, steht da fast dasselbe drin wie bei den anderen."

Felix besucht das Lessing-Gymnasium in Döbeln. Dort können Schüler seit einigen Jahren den Wahlgrundkurs Jüdische Geschichte und Kultur belegen. Regelmäßig sind Zeitzeugen zu Gast. Und da ist Erik, der später mal Bundespolizist werden will, um etwas für sein Land zu tun. An seiner Schule gebe es einige Jungs mit Thor-Steinar-Shirts und Reichsadler-Gürtelschnallen, erzählt er, aber kaum Lehrer, die etwas dagegen sagen.

Erst 2016 beschloss die Staatsregierung, Geschichte wieder zum Pflichtfach zu machen

2016 erschien eine Studie, die erneut Ungemach für Sachsens Politiker bereithielt, diesmal war es eine eigene. Der Sachsen-Monitor, eine repräsentative Umfrage im Auftrag der Staatsregierung, die auch extremistische Einstellungen erfasst, brachte folgende Ergebnisse: 46 Prozent der 18- bis 29-Jährigen waren der Meinung, "Juden versuchen heute, Vorteile daraus zu ziehen, dass sie während der Nazi-Zeit die Opfer gewesen sind." 49 Prozent stimmten der Aussage zu, "Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden."

Im selben Jahr beschloss das Kabinett, Geschichte wieder zum Pflichtfach zu machen. Im Kultusministerium hat ein neues Referat die Arbeit aufgenommen, das sich mit Demokratieförderung und politischer Bildung befasst. Eine Expertenkommission hat ein Konzept zur Stärkung der demokratischen Schulentwicklung erstellt. Am 25. September wird es vorgestellt, am Tag nach der Bundestagswahl. Auch das Team der Aktion Zivilcourage hat zugearbeitet. Ob es das Projekt "Ich bin wählerisch" ein weiteres Mal geben wird, ist trotzdem ungewiss. Die nächste Möglichkeit gibt es 2019. Dann ist in Sachsen Landtagswahl.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3635286
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 22.08.2017/mkoh
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.