In einem Berufsbildungswerk fragt mich eine 19-Jährige: "Warum kommen die Flüchtlinge alle hierher? Warum gehen die nicht nach China? Da gibt es doch schon so viele Leute, da fällt das nicht auf. Wir haben hier genug Probleme. Um uns kümmert sich keiner, niemand interessiert sich für uns. Auch nicht die Politiker." Ein Satz, der immer wieder gesagt wird. An den Orten, an die es mich verschlägt, kommt nur äußerst selten ein Politiker vorbei. Manchmal kommt aber einer von diesen Menschen bei den Politikern vorbei.
Ein SPD-Stand in NRW, der von zwei gut gekleideten Herren um die dreißig betreut wird. Ein älterer Herr in Bauarbeiterkleidung - man sieht ihm an, dass er Zeit seines Lebens körperlich gearbeitet hat - erzählt den beiden mit Tränen in den Augen, dass er immer die SPD gewählt habe, dies aber jetzt nicht tun könne und gar nicht mehr wählen gehe, weil keine der Parteien für ihn da sei. Statt mit dem Menschen zu reden, machen sich die beiden über ihn lustig und imitieren seine fehlerhafte Aussprache. Immer noch mit Tränen in den Augen geht der ältere Herr, während sich die beiden jungen Männer über ihn amüsieren. Ich gehe zu ihnen und frage sie, ob sie sich nicht schämen? Sie schauen mich an, als hätte ich sie nicht mehr alle. Für mich hat sich diese Szene als Sinnbild dafür eingebrannt, dass ein Teil der Bevölkerung von der Politik vergessen wurde.
Diesen älteren Herrn und so viele andere wird die Politik, egal welcher Partei, nicht mehr zurückgewinnen können. Warum? Unter anderem, weil die politische Elite die Probleme nicht kennt, die diese Menschen beschäftigen. Kaum ein Mensch aus der Arbeiterschicht sitzt im Bundestag. Weiß einer der Abgeordneten, was es heißt, in Armut zu leben? Was es für ein Gefühl ist, mühsam seine Zahnlücke zu verbergen, während mich Politiker mit ihren strahlend weißen Zähnen von den Wahlplakaten anlächeln? Was hat mein täglicher Überlebenskampf mit dem Leben der politische Akteure zu tun? Wer von ihnen weiß, was es heißt, einen Tag zu spät seinen Lohn zu bekommen? Eine Meldung im Briefkasten zu finden, dass der Strompreis steigt? Seinen Kindern noch nicht mal einen Zoobesuch bieten zu können? Wer kennt solche Ängste und Zustände und ist aktiv und verantwortlich in der Politik?
Wenn ich mich mit solchen Problemen herumschlagen muss, die die politisch Verantwortlichen nicht kennen und nicht bekämpfen, wieso sollte ich sie dann wählen? Mein Geld reicht nicht aus, um im Biosupermarkt einkaufen zu gehen, trotzdem liebe ich meine Kinder. Und ich merke sehr wohl, wenn sich andere über mein vermeintliches Bildungsdefizit lustig machen. Ich merke, dass sie meine Art der Lebensgestaltung für falsch halten. Und da sie mich für dumm halten, verbieten sie mir das Rauchen in der Kneipe, wo ich mich mit meinen Schicksalsgenossen ab und zu treffe und mir drei Bier leiste. Sie tadeln mich für meinen ungesunden Lebensstil, weil ich meine Kinder in Fast-Food-Ketten einlade. Der Burger kostet dort aber nun mal nur einen Euro.
Da niemand aus meiner Schicht in der Politik sitzt, gibt es niemanden, der für mich Partei ergreift und sich für meine Rechte einsetzt. Früher gab es in der außerparlamentarischen Linken Menschen, die sich bei Arbeitskämpfen eingemischt haben. Sie sind etwa zu Streiks von Leiharbeitern oder bei Putzfirmen gefahren. Sie haben mit ihrem Wissen die Leute unterstützt. Von solchen solidarischen Aktionen hat sich die Linke großteils verabschiedet. Stattdessen sitzen sie mit ihrer eigenen Sprache und veganem Essen auf Plenas und zerfleischen einander.
"Wenn ich die Politiker im Fernseher reden höre... Das wenige, was ich verstehe, hat nichts mit mir zu tun. Wieso sollte ich mich für die interessieren? Die interessieren sich ja auch nicht für mich", erzählt mir eine Putzkraft an einer Schule. Was soll ich der Frau raten? Dass sie doch bitte nach ihrem anstrengenden Job, der sie so gerade leben lässt, eine Veranstaltung besuchen soll, bei der sich das Bildungsbürgertum über politische Themen unterhält? Ich gehe oft zu Veranstaltungen, zu denen politische Akteure einladen. Es ist fast immer die gleiche Klientel da. Woran man sie erkennt? Sie reden darüber. Und sollte sich doch mal jemand aus einer anderen Schicht dorthin verirren, wird er so lange beäugt, bis er sich nicht mehr wohlfühlt und geht. Schon durch die Sprache wird man ausgegrenzt. Da das Bildungsbürgertum stets unter sich bleibt, spricht es eine Sprache, die außer ihm keiner versteht.
Die Menschen, denen ich immer wieder begegne, haben nicht das Gefühl, dass sie mit den politischen Akteuren etwas verbinden. Eine der wenigen Ausnahmen ist der Bezirksbürgermeister von Köln-Ehrenfeld, Josef Wirges, Jahrgang 1952. Zu dem Bezirk gehören aber auch ärmere Stadtteile wie Bickendorf und Bocklemünd, mit deren Stimmen er gewählt wurde. Im Hipsterbionadenstadtteil Köln-Ehrenfeld wirkt er wie aus der Zeit gefallen. Er spricht, was man in Köln trinkt - Kölsch -, und man trifft ihn schon mal an der Fleischtheke. Bei einer Veranstaltung zum Bau eines Einkaufszentrums saß er mit auf dem Podium und wurde aus dem Bildungsbürgerpublikum ziemlich arrogant angemacht, ob er überhaupt wüsste, über was er da redet. Im kölschen Slang kam seine Antwort sofort: "Meinst du ich sitze hier, weil ich Schimmel in der Bude habe?" Den bildungsbürgerlichen Kritikern der "Gentrifizierung" des Stadtteils hielt er vor, dass sie ja wohl selbst die Gentrifizierer seien. Solche Typen hätten heute in der politischen Landschaft keine Chance mehr. Sie werden aber als Identitätsfiguren gebraucht. Damit sich auch endlich wieder andere Leute für politische Themen interessieren.
Es gibt auch die anderen Momente. Selten, aber doch. Mit zwei Förderschülern aus einer Schülerzeitungsgruppe fahre ich zu einem Training des VFL Bochum. Zum Abschluss stellen die beiden Schüler sich dem Trainer vor, sagen von welcher Schule sie sind, und bitten um ein Interview. Robin Dutt gibt bereitwillig und auf Augenhöhe Antworten. Die beiden Jungen fühlen sich ernstgenommen und fahren stolz nach Hause. Ein Vorbild, dieser Trainer. Warum geht das nicht immer so?
Ich frage bei einem Museum an, ob eine Gruppe von Förderschülern eine kostenlose Führung haben könnte. Ob die das denn überhaupt verstehen, fragt der Museumsmitarbeiter. Außerdem fänden die das doch bestimmt langweilig. Schon aus Trotz beharre ich auf einem Termin. Nach einer halben Stunde ist der skeptische Museumsführer wie verwandelt. Fröhlich beantwortet er die neugierigen Fragen der Schüler. Ein paar Tage später schreibt er mir eine Mail und zeigt sich begeistert von den Förderschülern. Da habe ich mit meinem Trotz vielleicht einen dazu gebracht, umzudenken. Und der Rest?
Mirijam Günter lebt in Köln. Zuletzt erschien von ihr der Jugendroman "Die Stadt hinter dem Dönerladen" (Größenwahn Verlag).