Süddeutsche Zeitung

Religionsunterricht:"Der Schüler ignorierte mich, weil ich eine Frau bin"

Ein Muslim weigert sich, mit seiner Lehrerin zusammenzuarbeiten. Einem anderen Schüler fehlt das christliche Morgengebet. Wie Religion den Schulalltag beeinflusst.

Protokolle von Pia Ratzesberger

Der gekreuzigte Jesus thront über der Türe, Schüler knien gen Mekka, andere verspotten jeglichen Gott. In den Klassenzimmern des Landes kommen alle zusammen; Christen und Muslime, Juden und Atheisten. Nirgends wird auf so engem Raum ausgehandelt, welche Rolle die Religion in der deutschen Gesellschaft spielen soll wie in den Schulen der Republik. Schüler und Absolventen, Eltern und Lehrer erzählen.

Michael, Abiturient: Jeder Schüler gehört nach christlichen Werten erzogen

"Die Religion berührt den Schulalltag kaum, aber selbst das ist manchen zu viel. Ich bin römisch-katholisch, habe letztes Jahr mein Abitur gemacht. Anders als viele meiner Freunde gehe ich regelmäßig in die Kirche. Am Anfang meiner Gymnasialzeit war es üblich, dass im Klassenzimmer vorne bei der Tür ein Kreuz hing. Vor Beginn der ersten Stunde musste ein Schüler ein Gebet aus einem kleinen Büchlein vortragen, beziehungsweise durfte. Es gab nie Beschwerden von Andersgläubigen, das Gebet gehörte zum Alltag. Vor den Ferien und am ersten Schultag ging man gemeinsam in die Kirche, jeder seiner Konfession nach.

Für die Moslems gab es Betreuung in der Schule. In den vergangenen acht Jahren aber hat sich all das stark geändert: Ein konfessionsloser Elternteil beschwerte sich zum Beispiel, man könne einem Kind nicht zumuten, den ganzen Tag ein Kreuz sehen zu müssen. Das Kind hat sich zwar nie darüber beklagt, die Mutter aber wollte sich wohl profilieren. Das Gebet vor der ersten Stunde wurde zudem zu einer freiwilligen Sache, letztendlich also abgeschafft. Die Schule ist mittlerweile nahezu gänzlich entkoppelt von der Religion. Das ist meiner Meinung nach schade, da das Christentum zu unserer Kultur dazugehört, vor allem in einer ländlichen Region in Bayern.

Jeder Schüler gehört nach christlichen Werten erzogen. Die Lehre Christi ist in der heutigen Zeit nach wie vor aktuell und wichtig. Wenn die Kinder nicht mehr zur Kirche gehen und das Elternhaus nicht religiös erzieht, dann bleibt nur noch die Schule. Man kann über die Kirche streiten, allerdings nur schwerlich über den Humanismus, den Jesus vermitteln wollte. Dieser geht so nach und nach verloren, in einer Generation egomanischer Atheisten."

Ernst, Lehrer: Meine Schüler sind stolz auf ihre Religion, aber nicht radikal

"Ich unterrichte an einer Wirtschaftsschule, deren Schüler zu 90 Prozent muslimischen Glaubens sind. Bei uns trägt die eine Hälfte der muslimischen Mädchen Kopftuch, während die andere Hälfte ihr Haar nicht bedeckt. Innerhalb der Schülerschaft ist dies kein Problem. Schwierig wird es erst, wenn einzelne Mädchen sich sichtbar schminken, enge Kleidung tragen oder hohe Schuhe anziehen. Dann wird schon einmal von einer "Schlampe" geredet, und die Jungs an der Schule echauffieren sich, warum das Mädchen so "offenherzig" herumläuft. Solche Sachen diskutieren wir gemeinsam im Ethik-Unterricht, das sind gute Gelegenheiten, um für Toleranz zu werben und den Jungen den Spiegel vorzuhalten: Erst beleidigen sie diese Mädchen und dann schauen sie sich gemeinsam Nacktbilder von Frauen an. So eine Doppelmoral ist leider weit verbreitet.

Die Religion spielt bei fast allen Schülern eine große Rolle. In der Mittagspause suchen viele einen Raum zum Beten auf. Leider gibt es hier oft Streit mit dem Hausmeister, weil der nicht tolerieren möchte, dass die Schüler sich vor dem Gebet die Füße waschen müssen. Während des Ramadan hat man den Tag über zudem völlig übermüdete Schüler vor sich, manche stehen schon um 4 Uhr in der Früh auf, um gemeinsam das letzte Mahl vor dem Sonnenaufgang zu sich zu nehmen.

Trotzdem merkt man jedem einzelnen Schüler an, wie wichtig diese Zeit für ihn ist. Es ist schön zu beobachten, wie die Schüler gemeinsam diese Zeit verbringen. Außerdem wird man auch als Nicht-Muslim oft am Abend zum Fastenbrechen eingeladen: Man erfährt gerade bei solchen Festen, wie harmonisch es in diesem Kulturkreis zugeht, wieviel Gastfreundschaft einem entgegengebracht wird.

Eines nämlich möchte ich klarstellen: Bei aller Emotionalität, bei den vielen Diskussionen, die ich mit Schülern über Gott schon geführt habe - jeder der Schüler respektiert neben seiner Religion auch andere Religionen sowie den Glauben an keinen Gott. Ich hatte noch nie das Gefühl, dass ich mit Fundamentalisten zusammenlebe. Ich sehe junge Menschen, die stolz auf ihre Religion sind, aber weit davon entfernt sind, sich zu radikalisieren oder ihren wenigen nicht muslimischen Mitschülern ihren Glauben aufzuzwängen. Problematisch sind eher veraltete Rollenklischees, die aber größtenteils auf mangelnder Bildung beruhen. Viele Schüler hinterfragen mit mehr Wissen ihre alten Denkmuster. Dabei spielt es an unserer Schule keine Rolle, ob ich während solcher Diskussionen ein Kopftuch trage, ein Kreuz am Hals oder mir Atheismus auf den Arm tätowiert habe."

Timucin, Headhunter: Ich habe nie verstanden, warum wir getrennt werden

"Religionsunterricht war für mich immer das Skurrilste an der Schule, schon von klein auf. Ich ging in Bayern in die Schule, und irgendwann hieß es: Religionsunterricht. Die deutschen Kinder wurden auf einmal gefragt: 'Evangelisch oder katholisch?' Die haben geantwortet, die Lehrerin hat auf einem Zettel notiert. Ich wusste gar nicht, was das alles nun bedeutet, in der ersten Klasse.

Die Nicht-Deutschen waren hauptsächlich Türken, abgesehen von ein paar jugoslawischen Flüchtlingen. Auf einmal mussten sich alle aufteilen, die Türken auf der einen, die christlichen Kinder auf der anderen Seite. Ich musste mit den türkischen Kindern dasitzen und auf Arabisch Gedichte auswendig lernen, in denen es hieß, "jeder hat den gleichen Gott und es gibt nur einen Gott". Niemand von uns sprach Arabisch.

Ich habe nie verstanden, warum wir jetzt voneinander getrennt werden und jeder auf einmal anders ist als der andere - obwohl es doch nur einen Gott gibt und wir vor Gott alle gleich sind. Wer Jesus ist, wusste ich auch nicht. Für mich war das einfach nur ein nackter, dünner, blutiger Mann, der gekreuzigt über der Türe hängt; den ich mir immer angeschaut habe, wenn ich unaufmerksam war.

In den christlichen Gottesdienst mussten wir türkische Kinder auch alle mit. In der zweiten Klasse habe ich mich geweigert, doch die Lehrerin meinte: "Du musst da hin!" Das schrieb der Lehrplan eben so vor. Ab der fünften Klasse waren wir dann zu wenige Moslems für einen eigenen Unterricht und saßen mit in den Ethik-Stunden. Gemeinsam mit Orthodoxen, Moslems, Juden, und Hindus. Das war der Knüller! Von griechischer Mythologie über Philosophie bis hin zu den Weltreligionen bekamen wir alles gelehrt. Das sollte es für jeden geben."

Fabian, Schüler: Ich glaube nicht an einen Gott

"Für die anderen ist der Religionsunterricht oft eher lästig. Sie sagen: 'Das brauchen wir später sowieso nie wieder im Leben.' Für mich aber spielt das Fach eine große Rolle, um mehr von den Denkweisen und der Atmosphäre früherer Zeiten zu verstehen. Ich bin ehrlich: Ich glaube nicht an Götter oder einen Gott. Aber trotzdem hilft mir das Fach, mein Verhalten zu überdenken, indem wir uns in Diskussionen austauschen und ich verschiedene Ansichten zu einem Thema mitbekomme."

Hayat, Lehrerin: Er ignorierte mich, weil ich eine Frau bin

"Ich bin immer noch erstaunt, mit welchen verkrusteten Vorstellungen es manche Schüler bis zum Abitur schaffen. Ich war Zweitprüferin, der Erstprüfer war ein Mann. Der Junge trat durch die Tür, würdigte mich keines Blickes und grüßte nur meinen Kollegen. So ging das die ganze Zeit, er ignorierte mich. Selbst wenn ich ihm Fragen stellte, sah er mich nicht an. Es war offensichtlich, dass er mich ignorierte, weil ich eine Frau bin. Auch in seinen Antworten kam heraus, welch anachronistisches Geschlechterbild er vertrat.

Ich bin selbst gläubige Muslimin, und mich ärgert es, wenn sich Menschen so verhalten, wenn sie das Klischee bestätigen, das viele Deutsche haben: Der Islam achtet die Frau nicht. Das nämlich stimmt überhaupt nicht. Ich setzte mich deshalb dafür ein, dass der Schüler in dieser Prüfung nicht so gut abschnitt, wie der Erstprüfer es forderte. Schließlich hatte dieser Junge einen entscheidenden Grundsatz der deutschen Demokratie nicht verstanden - und auch unserer Religion." (Name von der Redaktion geändert)

Annette, Abiturientin: Der Unterricht versucht mich vom Glauben abzubringen

"Manchmal habe ich das Gefühl, der Religionsunterricht versucht mich von meinem Glauben abzubringen. Zwar bin ich sehr religiös und gehe mindestens einmal pro Woche in die Kirche, trotzdem werde ich kein Abitur in Religion ablegen. Der Unterricht hat sehr wenig mit dem eigenen Glauben zu tun, in meinem Fall dem katholischen. Von der achten Klasse an wird fast ausschließlich über andere Religionen geredet, ab der Oberstufe werden Religionskritiken thematisiert.

Es ist zwar verständlich, dass kritisch diskutiert werden muss, manchmal ist mir das aber zu viel. Sehe ich auf meine Grundschulzeit zurück, kann ich mich noch an einiges erinnern: Gebete zu Tagesbeginn, Religionsunterricht beim Pfarrer, Schulgottesdienste und Kinderbibeltage waren Alltag. Ab der weiterführenden Schule jedoch nahmen Gebete am Tagesanfang ab, blieben ab der neunten Klasse völlig aus. Auch sonst wird kaum über Religion geredet, trotz des Unterrichts. Die einzigen Fragen sind: 'Hast du den Hefteintrag gelernt?' oder 'Fandest du die Frage 3 in der Extemporale auch so schwer?'"

Anke, Redakteurin: Einzelne Konfessionen haben an der Schule nichts zu suchen

"Ich bin Atheistin und erziehe meine Kinder ohne Religionszugehörigkeit. Gerade deshalb bin ich immer noch erstaunt, wie sehr die Religion zum Schulalltag dazugehört - an einer städtischen Grundschule. Religion wird als Schulfach nach wie vor als Selbstverständlichkeit hingenommen, es gibt an unserer Grundschule keine Alternative. Die nicht-teilnehmenden Kinder sitzen im Nebenraum. Ich frage mich, wie die Tatsache, dass sich in Deutschland nur noch etwa 30 Prozent aller Menschen einer Religion zugehörig fühlen, dazu passt, dass am Religionsunterricht 20 Kinder einer Klasse teilnehmen, nur drei nicht?

Ich finde es traurig, wie viele Veranstaltungen in der Kirche stattfinden: Ein Einschulungsgottesdienst und Abschlussgottesdienst vor den Ferien - in einer nicht-konfessionellen Schule. Ich würde mir sehr wünschen, dass das Thema Religion nicht aus den Schulen verschwindet, sondern stattdessen in neutralem Rahmen als Fach Ethik an den Schulen bleibt. Jedes Kind sollte lernen, dass und welche Religionen es gibt. Aber die einzelnen Konfessionen haben an Schulen nichts zu suchen. Religion ist Privatsache."

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