An quadratischen Tischen, wie Inseln im Klassenzimmer verteilt, sitzen je sechs Schüler: schmächtige Jungen in Kapuzenpullis und Mädchen mit geschminkten Augen. Einige fummeln an ihren Smartphones rum, andere reden miteinander oder spielen mit bunten Gummibändern. Lehrerin Ute Rühling bittet um Ruhe, sie schreibt eine Gleichung mit zwei Unbekannten an die Tafel. Neben die Gleichung schreibt sie "g=2", und die Neuntklässler sollen die zweite Unbekannte errechnen. "Wo kommt denn die Zwei her?", fragt ein Junge. "Die habe ich mir ausgedacht", sagt Rühling, sie spricht leise, fast zurückhaltend.
Eine Schülerin meldet sich mit der Lösung. "Warum steht da eine Zwei?", fragt plötzlich eine andere, die soeben noch munter mit dem Nachbarn getratscht hat. Lehrer sein ist oft mühsam. Rühling, 34, ist Diplom-Physikerin, forschte in den vergangenen Jahren zu Astronomie. Jetzt unterrichtet sie an einer Gemeinschaftsschule in Berlin, Mathe und Physik.
Dass sie nun vor einer Klasse steht, hat mit dem Lehrermangel zu tun, der seit Jahren in Berlin und in den ostdeutschen Bundesländern herrscht. Betroffen sind am stärksten Mathe und Naturwissenschaften, teils aber auch andere Fächer, vor allem in Berufsschulen, Grundschulen und bei Sonderpädagogen. In Berlin ist die Lage brenzlig: Zu Beginn des Jahres teilte der Senat mit, dass zum aktuellen Schuljahr mehr als 2000 Stellen neu besetzt werden müssten. Um den Bedarf decken zu können, warb der Senat nicht nur mit Kampagnen in anderen Ländern um Lehrer (sodass inzwischen an immer mehr Schulen ein bayerischer Ton hörbar ist), sondern rief Quereinsteiger dazu auf, sich für alle Fächer zu bewerben.
3000 Leute meldeten sich, zum Beispiel Philosophen, Journalisten, Pharmazeuten, Sprachwissenschaftler oder gescheiterte Unternehmer. 300 von ihnen bekamen eine Stelle und dürfen wie Lehramtsstudenten ein Referendariat machen - allerdings berufsbegleitend. Denn die Quereinsteiger sind als Lehrkräfte angestellt, das heißt, dass sie von Anfang an unterrichten: 19 Stunden pro Woche bei voller Bezahlung - manche von ihnen ohne pädagogisches Wissen.
Am Anfang flogen Papierkügelchen durchs Klassenzimmer
Ute Rühling ist eine dieser Quereinsteigerinnen. Doch sie steht nicht zum ersten Mal vor einer Klasse. Was andere momentan durchmachen, hat sie bereits hinter sich. Sie bewarb sich vor einem Jahr als Vertretungslehrerin. Sie wollte keine Sterne mehr beobachten, sagt sie, sondern mit Menschen arbeiten. Sie hatte Glück. Ihre Kollegen nahmen sich Zeit und bereiteten sie Schritt für Schritt auf den Unterricht vor. Das ist nicht selbstverständlich. Viele Quereinsteiger müssen allein zurechtkommen. Rühling lief anfangs bei Kollegen mit, war dann Unterstützungslehrerin und vertrat später erste Stunden. Im zweiten Halbjahr bekam sie dann eigene Kurse.
Wenn die Physikerin an den Anfang zurückdenkt, lächelt sie verlegen und erzählt von Papierkügelchen, die in ihrer ersten Stunde durchs Klassenzimmer flogen. "Ich wusste ja nicht, wie man eine Klasse anspricht, wie man den Unterricht aufbaut und alle beschäftigt: die Top-Schüler und auch die mit Schwierigkeiten", sagt sie. Seitdem habe sie viel gelernt: von ihren Kollegen. Und schlicht durch Ausprobieren. Dass sie nun auch die richtigen Methoden lernt, darüber ist sie froh. Sie will schnell besser werden, genauso gut unterrichten, wie es in den Seminaren gelehrt wird. Drei davon muss sie für das Referendariat besuchen: zwei fachspezifische und eines für die pädagogischen Grundlagen.