Süddeutsche Zeitung

Pro Lateinunterricht:Warum Latein als Schulfach bleiben muss

  • Auch wenn die Lateinpflicht für Lehrer zunehmend verschwindet, Latein stellt sich gegen den Zwang zur Ökonomisierung.
  • Der Lateinunterricht vermittelt die Grundlagen von Kultur, Philosophie und Politik.
  • Latein spielt weiterhin an Schulen und Universitäten eine wichtige Rolle - und zwar zu Recht, findet Johann Osel.

Kommentar von Johann Osel

Verstaubt, verzopft, verzichtbar - das sind die Argumente, die nun wieder gegen Latein aufgeführt werden. Ein "Luxuswissen" sei die Sprache, ein exklusives Ding für dünkelhafte Großtuer, im Alltag allenfalls zu gebrauchen, um auf einer Party mit Sentenzen anzugeben. In der Debatte, die gerade wegen der Lateinpflicht für Gymnasiallehrer in den Sprachen, Geschichte, Religion und Philosophie entstanden ist, sind die Maßstäbe verrutscht.

Auf der einen Seite die Kritiker, hervorgegangen aus einer Bochumer Studenteninitiative - sie üben den Frontalangriff auf die alte Sprache, wollen sie am liebsten auf den Müllhaufen der Geschichte werfen, auch mittels oben genannter Argumente. Dem gegenüber steht die Lobby der Altphilologen, die mit der These durchs Land zieht, dass ein sinnvolles Leben ohne Latein schier unmöglich sei. Auch das ist Irrsinn.

Beiden Lagern kann man - in dem Kontext muss es erlaubt sein - mit Horaz kommen: "Est modus in rebus, sunt certi denique fines, / quos ultra citraque nequit consistere rectum." Frei übersetzt: Bei allen Dingen ist das rechte Maß zu finden - außerhalb gewisser Grenzen entsteht meistens Murks. Also eine Bestandsaufnahme: Warum soll Latein auch weiterhin in Schulen und Universitäten eine Rolle spielen?

Latein schult die Selbstdisziplin

Latein ist ein "Lernfach", ja. Aber auch im besten Wortsinne - man lernt viel. Schüler lernen, mit Sprache umzugehen, auch mit der eigenen. Mit Latein kann man das Lernen lernen, im Sinne einer systematischen Herangehensweise. Latein schult (auch wenn das Wort nicht mehr en vogue ist) die Selbstdisziplin. Dabei ist trotz der hohen Ansprüche der Nimbus der Quälerei und Paukerei nicht mehr aktuell: Deklinationsdiktatoren früherer Zeiten, die Grammatik wie militärische Übungen eintrichterten, gibt es kaum noch. Junge Lateinlehrer sehen sich nicht nur als Sprachdozenten, sondern als eine Art Kulturvermittler.

Latein ist Orientierung. Es macht ein Fenster auf, zu den Grundlagen von Kultur, Philosophie, Politik, das Schülern sonst eher verschlossen bleibt. Das, was Latein leistet, kann Geschichtsunterricht nicht leisten. Das Fach war teils Kürzungsopfer im achtjährigen Gymnasium, ganze Epochen werden in wenigen Stunden abgehakt.

Hinzu kommt: Ein Fach wie Latein, dessen ökonomischer Nutzwert nicht eins zu eins messbar ist, muss man pflegen. Bildung wird in der Gesellschaft nicht mehr als Wert per se definiert, es geht kaum um Bildung eines Menschen. Sondern um Bildung einer Arbeitskraft, um exakt anwendbares Wissen, das gefälligst in die Köpfe von Schülern zu verfrachten ist. Latein, als Schule des Lernens, als Schule des Denkens, als Fenster zur Kultur - es verschließt sich dem Zwang zur Ökonomisierung. Eltern und Schüler beweisen, dass Latein kein überkommener Bestandteil des Systems ist. Die Nachfrage ist steigend.

Es wird niemand dazu gezwungen, Latein zu lernen - und es ist niemand verpflichtet, Philologe zu werden. Stichwort Universität: Im Studium der Sprachen geht es immer noch um ein wissenschaftliches Studium. Zum Handwerk des Philologen gehört es nun mal, sich wissenschaftlich mit den sprachlichen und literarischen Grundlagen seines Faches auseinandersetzen zu können. Alle Fächer, für die Latein nun nicht mehr obligatorisch sein soll, haben die Basis im Lateinischen oder wurden stark beeinflusst. Wieso die Ansprüche senken? Es entstehen im schlimmsten Fall, horribile dictu, Scharen von Absolventen mit Halbwissen. Adorno hat "das Halbverstandene und Halberfahrene" den "Todfeind" der Bildung genannt, mit Recht.

Nicht auszudenken sind zudem die Folgen für den Stellenwert des Lehrers, wenn man sich ganz vom Lateinischen verabschiedet. Schon jetzt gilt die Ausbildung der Pädagogen an den Hochschulen vielen Rektoren als lästige Pflichtaufgabe, Lehrer sind an Fakultäten meist das fünfte Rad am Wagen. Würde man sie beim Anspruch von anderen Studenten abkoppeln - nach der Devise: die "richtigen" Philologen und Historiker mit Latein hier, die Schmalspurvariante fürs Klassenzimmer dort - würde dies das Renommee des Berufs in Mitleidenschaft ziehen. Und man muss bedenken: Das Gymnasium vor allem in der Oberstufe ist per definitionem immer noch ein "Propädeutikum" - das Schüler auf ein wissenschaftliches Studium vorbereitet.

Studie bescheinigt Studenten mit Latinum besseres Textverständnis

Latein schadet auch nicht, im Gegenteil: An der Akademie der Wissenschaften und Künste in NRW wurden kürzlich die Ergebnisse einer Studie präsentiert. Geprüft wurde das deutsche Textverständnis von mehr als 3000 Studenten verschiedener Fakultäten. Studenten mit Latinum schnitten deutlich besser ab. Referenten der Akademie zeigten Ähnliches für das Englische auf.

Es ist töricht, zwei Jahrtausende Geistesgeschichte pauschal als nichtig zu betrachten, nur weil sie auf den flüchtigen Blick nicht dem Zeitgeist entsprechen mögen. Wohl aber lässt sich bei der Lateinpflicht abwägen. "Lateinkenntnisse", die dem Niveau einiger Schuljahre entsprechen, statt Latinum können eine Alternative sein. Zudem müssen Uni-Kurse zum Nachholen besser werden. Lehramt ist vielerorts, wie andere Fächer, auf Bachelor und Master umgestellt. Mit denselben Symptomen: weniger Freiheit, Verschulung, detaillierte Lernziele, Leistungspunkte, Ruck-Zuck-Mentalität.

Obendrauf noch einen Lateinkurs zu setzen, kann tatsächlich als Tortur gesehen werden. Die Universitäten müssen die Kurse besser integrieren, außerdem für solche Nachholer flexibler bei der Regelstudienzeit sein. Revolutionen sind nicht nötig, nur ein paar Änderungen. Um bei Horaz zu bleiben: "das richtige Maß".

Lesen Sie hier den Contra-Kommentar von Roland Preuß.

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SZ vom 22.12.2014/kjan
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