Süddeutsche Zeitung

Prägend:Dorflehrer Steensen

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Von Susanne Klein

Ingwer Feddersen "grub schon, seit er denken konnte. Drehte Steine um an Straßenrändern. Wühlte, wenn er an der See war, jeden Spülsaum durch und suchte Bernsteine und Donnerkeile, Seeigel-Fossilien. Er konnte gar nicht anders: Volksschule Brinkebüll, vier Jahre Heimatkunde. Man war bei Lehrer Steensen um das Graben nicht herumgekommen". Wie Dörte Hansen in wenigen Zeilen die Figur des Lehrers in ihrem Bestseller "Mittagsstunde" einführt, sagt alles: Einen faszinierenden Lehrer vergisst man nicht, man spürt seine Spuren noch Jahrzehnte später in sich, als Interesse, als Teil des eigenen Seins. So wie der Archäologe Ingwer Feddersen, der mit 47 in das nordfriesische Dorf zurückkehrt, das Lehrer Steensen wie kein Zweiter geprägt hat, weil er Generationen von Dorfkindern unterrichtete. Dabei ist dieser Lehrer, der gegen Flurbereinigung und für Hünengräber kämpft und dessen Schulbibliothek manchem Brinkebüller Kind das geistige Überleben sichert, kein vorbildlicher Lehrer im heutigen Sinn. Vielmehr ein Dorfschulmeister alten Schlags, hölzern, streng, jähzornig mit Kreide werfend. Manchmal haut er einem "Dööskopp" das schludrige Heft um die Ohren - und streicht dem Gegeißelten in der nächsten Pause freundlich über den Scheitel. Mehr als 40 Schüler hält Steensen so in Schach, neun Jahrgänge in einem Klassenzimmer, von progressiver Pädagogik lässt er sich nicht zum Hampelmann machen. Dass Steensen jahrgangsübergreifend und auf drei Anforderungsniveaus unterrichtet, weil er die Potenziale seiner Schüler erkennt, lässt ihn dann doch ein wenig zeitgemäß wirken. Zeitlos dagegen ist die Eigenschaft, die jeden Lehrer faszinierend macht: Ihn umweht ein Geheimnis. Zur Mittagsstunde, wenn das Dorf sich ausruht, wartet der Lehrer auf eine Frau, die zu ihm ins kalte Schulhaus schleicht. Doch das ist eine andere Geschichte.

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Quelle:
SZ vom 05.08.2019
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