Pisa-Spitzenreiter China:Streber sind akzeptiert

Young Pioneers salute during the weekly flag-raising ceremony at the East Experimental School in Shanghai

Disziplin und Leistungsdruck bestimmen den Alltag an chinesischen Schulen - zumindest in den großen Städten.

(Foto: REUTERS)

Grausame Stundenpläne, exzessive Lernzeiten, Dauer-Nachhilfe: Chinesische Schüler sind Pisa-Spitzenreiter. Trotzdem schicken immer mehr Eltern ihre Kinder lieber im Ausland zur Schule.

Von Christoph Giesen

China ist eine Nation der Prüfungen, und das schon seit fast 600 Jahren. Wer in China Beamter werden wollte, musste schon während der Ming-Dynastie einen Test bestehen. Staatsdiener wurde nur, wer erfolgreich war: Adel, Geld, Beziehungen - das half nichts im alten China, nur wer büffelte, hatte eine Chance. Das gilt offenbar noch heute.

Schaut man sich die ersten Plätze des Pisa-Tests an, fällt auf, dass chinesischsprachige Länder und Regionen dominieren. Shanghai führt die Tabelle an, dahinter liegen Hongkong, Macao, Taiwan und Singapur; und dann kommt Korea, auch eine Kultur der Prüfungen.

"In Ostasien gibt es eine gewisse Testdisziplin", sagt Susanne Bloem von der OECD in Paris, sie hat die Pisa-Studie mitausgewertet. Viele Schüler in China seien es gewohnt, ständig Tests abzulegen, sagt Bloem.

Linktipp: Hier finden Sie eine Auswahl der Mathefragen aus dem Pisa-Test 2012.

Große Prüfung des Lebens

Wie ernst in China Prüfungen genommen werden, zeigt einmal im Jahr das nationale Schulexamen, der Gaokao (Hoher Test). Immer im Sommer findet die große Prüfung des Lebens statt: Wer gut abschneidet, darf eine der Eliteuniversitäten in Shanghai oder Peking besuchen, wer patzt, muss in die Provinz an eine kleinere Hochschule. Vom Gaokao hängen in China Karrieren ab. Damit niemand schummelt, werden die Testbögen in Gefängnissen gedruckt.

Viele besorgte Eltern unternehmen alles mögliche, damit die Prüfung gelingt: Am Vorabend bestellen sie ein Taxi, das auf keinen Fall die Ziffer vier im Nummernschild trägt (Vier und Tod hören sich auf chinesisch verblüffend ähnlich an). In der Vorbereitungszeit heuern sie extra einen Koch an, der besonders gesunde Gerichte kredenzt, oder informieren sich über spezielle Sauerstofftherapien, damit der Sohn oder die Tochter besser und vor allem länger lernen können.

Die langen Lernzeiten sind zweifelsohne der zweite Grund für den ostasiatischen Pisa-Erfolg. Schon im Vorschulalter bekommen viele Kinder in den Städten Fremdsprachen beigebracht, in Shanghai werden Programme wie der Kindergarten-MBA angeboten, Dreijährige haben dann Chemieunterricht, anstatt mit Legosteinen eine Ritterburg zu bauen. Die Stundenpläne vieler Kinder erinnern oft an die ausgebuchten Kalender teuer bezahlter Manager.

Es geht ums Auswendiglernen

Im Unterricht selbst geht es dann vor allem ums Auswendiglernen. Daran ist auch die chinesische Schrift schuld. Etwa bis zur fünften, sechsten Klasse dauert es, bis die Schüler genug Zeichen gepaukt haben, um eine Zeitung lesen zu können. 3000 bis 4000 sollten es sein. Auch später auf der Universität wird weiter auswendig gelernt. Spaziert man während der Prüfungszeit über den Campus einer chinesischen Universität, hört man ein Summen, Hunderte Studenten murmeln ihre Texte vor sich hin.

Wer in China ein Streber ist, ist gesellschaftlich akzeptiert. Selbst arme Familien legen deshalb zusammen und finanzieren dem Nachwuchs notfalls Nachhilfe. In Shanghai geben Familien im Schnitt 30 000 Yuan (umgerechnet 3600 Euro) für den Zusatzunterricht eines Oberschülers aus. Aber ist Shanghai, die einzige chinesische Stadt im Test, überhaupt repräsentativ für die gesamte Volksrepublik?

Wohl kaum. 84 Prozent der Schulabgänger in Shanghai wechseln nach dem Gaokao auf eine Universität, der chinesische Durchschnitt liegt bei 24 Prozent, schreibt Tom Loveless, Bildungsforscher der Brookings Institution. Shanghais Schulen sind viel besser ausgestattet als die Schulen auf dem Land. 120 Kinder in einer Klasse sind dort keine Seltenheit, viele Dorflehrer sind zudem sehr schlecht ausgebildet.

Bis ganz China teilnimmt, dauert es noch

Ein weiterer möglicher Verzerrungseffekt: Shanghais Schulen werden nicht von den Kindern aller Einwohner besucht. Schuld daran ist das sozialistische Meldesystem. Von der Geburt an hat jeder Chinese eine Haushaltsregistrierung, die sogenannte Hukou. Wer als Wanderarbeiter vom Land kommt und in großen Städten wie Shanghai oder Guangzhou arbeitet, hat zumeist eine Dorf-Hukou und ist somit nicht offiziell ein Bewohner der Stadt, er muss seine Kinder in der Heimatprovinz zur Schule schicken.

Ein Ummelden ist sehr kompliziert. Von einer in die andere Stadt, das geht gerade noch so, von einem Dorf im tiefen Westen Sichuans nach Shenzhen im Perlflussdelta oder nach Shanghai, das ist so gut wie unmöglich für einen Wanderarbeiter. Und davon gibt es jede Menge in Shanghai. Von 24 Millionen Einwohnern, schätzen Wissenschaftler der University of Southern California, seien elf Millionen innerchinesische Migranten.

2009 nahmen zwölf weitere Provinzen am Test teil, die Ergebnisse wurden nicht veröffentlicht - offenbar war die Stichprobe nicht valide. "Von ersten Feldversuchen", spricht die OECD-Statistikerin Bloem. Bis China insgesamt am Test teilnimmt, wird wohl noch ein Weilchen vergehen, 2015, vielleicht aber auch erst 2018. Bis dahin könnte sich einiges geändert haben, denn unter reichen Chinesen und Koreanern gibt es inzwischen die Tendenz, dem Nachwuchs das harte Regiment nicht mehr zuzumuten.

Sie schicken ihre Kinder auf Internate in Europa, auf Highschools in den Vereinigten Staaten oder aber auf internationale Schulen, die derzeit überall in Asien aufmachen.

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