Pisa-E und die Konsequenzen:Es kommt auf die Lehrer an

Vor zehn Jahren wurde die innerdeutsche Pisa-Studie publik - sie hat den Blick der Bildungspolitiker in die Klassenzimmer gründlich verändert. Die Leistungen der Schüler stehen unter intensiver Beobachtung. Doch nicht alles, was Bildung ausmacht, lässt sich mit Tests und Fragebögen beschreiben.

Johann Osel

Benjamin kann sich kaum noch auf dem Stuhl halten vor Aufregung. Er pfeift durch die Lücken zwischen den Milchzähnen und quiekt vor Freude, weil er die Antwort weiß: "Ganz sicher, ganz, ganz sicher." Soeben wurde ihm ein Beutel mit Würfeln und Platten in Blau und Rot gezeigt, dazu Statistiken über frühere Ziehungen aus dem Beutel.

Es sind Forscher der Technischen Universität München zu Gast in der Schule, sie wollen das logische Denken testen, Ansätze von Wahrscheinlichkeitsrechnung. Was können Achtjährige hier schon, obwohl sie gerade erst Plus und Minus gelernt haben? Benjamin ist weit für sein Alter, bildet sich anhand der Statistik ein Urteil. Anders der Schüler danach: Er starrt auf den Beutel, lutscht an seinem Daumen - und scheitert an der Aufgabe.

"Das sind natürlich zwei Extreme", sagen Matthias Bernhard und Elisabeth Reichersdorfer. Die Doktoranden an der Münchner "School of Education" sehen sich die Szenen gerade auf Video an. "Süß" seien die Kleinen beim Rätseln, finden sie, doch für Sentimentalitäten ist kaum Zeit. 220 Schüler wurden befragt und gefilmt, "standardisiert", auch eine schriftliche Prüfung gab es. Viel Arbeit steht an, auswerten, protokollieren, Kategorien finden für falsche wie richtige Lösungen. Am Ende sollen Ideen für besseren Unterricht entstehen. Es ist Kärrnerarbeit, ein Handwerk namens Bildungsempirie - die Vermessung der Schüler.

Am Mittwoch jährt sich zum zehnten Mal die Vorstellung der innerdeutschen Pisa-Studie, im Fachjargon "Pisa-E". Beim ersten internationalen Test im Jahr zuvor hatte Deutschland erkennen müssen, dass die Schüler im Land der Dichter und Denker nur schnödes Mittelmaß sind. Und dann kam die Pisa-E-Studie, im Juni 2002, sie sollte Leistungen in Bezug zur sozialen Herkunft setzen, zudem das Niveau quer durch die Republik aufzeigen.

Ergebnis: eine hohe Zahl an "Risikoschülern"; und eine derart starke Streuung zwischen den Ländern, dass bayerische Migrantenkinder gebürtige Bremer überragen. Die Kultusministerkonferenz (KMK) bemühte sich zu betonen, dass die Studie "nicht Ausdruck einer Bildungsolympiade" sei. Bis heute aber werkelt sie an den Folgen herum: gemeinsame Standards, Angleichung des Abiturs. Bei jeder weiteren Studie geht seitdem der mediale Trubel von Neuem los. Vor allem hat sich der Gedanke der Messbarkeit von Kompetenzen etabliert - und damit Bildung zum Herzensthema von Gesellschaft und Politik gemacht.

Kein Wunder, dass die empirische Bildungswissenschaft floriert. Erziehungswissenschaft, aus der Philosophie hervorgegangen, beschäftigte sich ursprünglich wenig mit Zahlen. Mittlerweile scheinen sich Daten-Sammler und klassische Pädagogen zu belauern, es geht auch um die Besetzung von Lehrstühlen und um Geld.

Neben der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft gibt es seit Kurzem ein Pendant für Empiriker. Es treffen zwei Schulen aufeinander: Rankings suggerierten Vergleichbarkeit, wo Vergleiche weder möglich noch sinnvoll seien, sagt etwa der Wiener Bildungsforscher und Philosoph Konrad Liessmann über Pisa. Empiriker dagegen nennen die Mutterdisziplin gern mal "Geschwafel".

Die Testerei geht weiter

Manfred Prenzel kommen solche Worte nicht über die Lippen. Inmitten des Pisa-Zirkus ist er ein unaufgeregter Professor geblieben. Gleichwohl hat der Dekan der Münchner "School of Education" und nationale Pisa-Projektmanager klare Ansichten: "Erst die Empirie erlaubt es, belastbare Daten zu erheben, um saubere Aussagen über die Zukunftschancen von Kindern zu treffen."

An der School of Education wurde die Ausbildung von Lehrern durch eine eigene Fakultät aufgewertet, die Studenten sollen an der Uni nicht länger zwischen Pädagogik und Physik irgendwie mitlaufen. Vor allem aber setzt man auf Anknüpfung an die aktuelle Forschung. Prenzel obliegt das wissenschaftliche Management für Pisa 2012 - im Auftrag der KMK und im Verbund mit Kollegen in Frankfurt und Kiel.

Nicht alles, was Bildung ausmache, aber doch zentrale Aspekte, lasse sich mit Tests und Fragebogen beschreiben, sagt er. "Wer zu dünn ist, tut ganz gut daran, regelmäßig auf die Waage zu steigen, um einen Kollaps zu vermeiden." Und man habe den Vorteil der kontinuierlichen Beobachtung, um Entwicklungen zu bilanzieren - und gegenzusteuern.

Vergleichsstudien könnten Schüler "nicht komplett vermessen, und das ist auch gut so", meint Kristina Reiss, Mathematik-Didaktikerin und Prenzels Stellvertreterin an der Fakultät. Pisa habe die Aufmerksamkeit auf die Probleme gelenkt, habe gezeigt, dass der Unterricht im Alltag nicht so läuft, wie man es gern hätte. "Aber wir müssen selber herausfinden, wo genau etwa die 14-jährige Karin Probleme beim Rechnen hat und was man dagegen tun kann."

Das ist der Job der Doktoranden. Matthias Bernhard, 29, wirkt nicht wie ein spröder Zahlensammler, durch seinen umgänglichen Ton eher wie ein guter Lehrer. Dieses Studium und ein Referendariat hat er auch gemacht, nur eine Abzweigung über die Forschung genommen - um sich intensiver Fragen zu widmen, die man später im Klassenzimmer brauche. Beim Würfel-Projekt konkret: Wie geraten Kinder bei Aufgaben auf die falsche Fährte? Und wie vermittelt man Mathematik besser?

Auf die Lehrer kommt es an - Kernaussage bisheriger Pisa-Studien. Bildungsministerin Annette Schavan will für eine Exzellenzinitiative Lehrerbildung über zehn Jahre 500 Millionen Euro fließen lassen, wohl vor allem für Konzepte mit empirischer Ausrichtung. "Je genauer wir wissen, wo das Problem liegt, umso besser werden die Wirkungen unserer Maßnahmen sein."

Der Staat finanziert zudem den nationalen Pisa-Verbund und das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), das an der Humboldt-Universität Berlin angesiedelt ist und das Prinzip von Pisa-E heute fortführt: die Erstellung und Überprüfung von "Bildungsstandards" - Normen für die Bundesländer, was ein Schüler in welchem Fach wann zu beherrschen hat.

Die Testerei geht weiter. Ohne öffentliches Buhei wie beim Projekt mit den Würfeln. Und im großen Stil: Im Mai haben an 250 deutschen Schulen Neuntklässler Pisa-Prüfungen geschrieben, für die internationale Studie, die Ende 2013 erscheint. Bald gehen die Daten nach Australien, ins Ranking-Zentrum der federführenden Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. In Deutschland fragt man sich derweil, ob der jüngste positive Trend anhält - und wie es um die soziale Gerechtigkeit bestellt ist. Großer Rummel garantiert.

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