Um acht Uhr abends sind die Gänge der Åsö-Grundskola immer noch voller Menschen. Jugendliche, die hier anfangen möchten, schauen sich die Räume an, lassen sich Kurse erklären. Werbung hat die Schule eigentlich nicht nötig. Sie ist beliebt, auch dank ihrer zentralen Lage in Stockholm, wie Englischlehrerin Helen Elofsson sagt. Andere haben dieses Glück nicht. Aus einigen Schulen in Vororten mit hohem Ausländeranteil oder wenig Geld sind die guten Schüler geflohen - und haben die Schwachen zurückgelassen.
Manche sagen, die Problemschulen seien die Ursache für die schwedische Bildungskrise. Doch die Lehrer der Åsö-Grundskola spüren, dass etwas viel Grundsätzlicheres nicht stimmt, und zwar seit Jahren. "Den Stoff, den ich früher in der Achten durchnahm, mache ich jetzt in der Neunten", sagt Elofsson. Als alle weg sind, sitzt sie mit Kollegin Agnetha Winberg, die Geschichte, Geografie und Religion unterrichtet, bei einer Tasse Tee. Winberg lehrt seit 40 Jahren und sie sagt, Hausaufgaben zu machen, sei heute nicht mehr üblich. "Die Schüler nehmen Schule nicht mehr ernst. Das Gefühl, sich anstrengen zu müssen, ist weg."
Was Deutschland vor Jahren durchlitt, trifft nun das einstige Bildungswunderland Schweden. Es ist tiefer gefallen als alle anderen Länder im Pisa-Test, wie die Zahlen der OECD vom Dezember zeigen. Die Schüler haben in allen Bereichen abgebaut, sind unterdurchschnittlich. Die Leistung sinkt seit Jahren, und zwar "durchgehend durch das Schulsystem, in öffentlichen und privaten Schulen, in allen Schülergruppen, unabhängig vom sozialen Status, vom Migrationshintergrund oder Geschlecht", schreibt die OECD.
Wer ist schuld?
Auf der Suche nach Schuldigen überbieten sich Politiker und Experten mit Studien. Ist die Kommunalisierung schuld, die Privatisierung, sind es die faulen Schüler oder doch die Lehrer? Die Zeit drängt, im September sind Wahlen. Kein Thema interessiert die Schweden laut Umfrage derzeit mehr als die Bildungspolitik.
Erste Reformen hat die Regierung vor drei Jahren umgesetzt. Die Schüler werden nun von der sechsten Klasse an benotet, nicht erst in der achten. Das Curriculum wurde verändert, die Ausbildung der Lehrer verbessert. Es sind kleine Schritte, die der Opposition nicht ausreichen. Die Sozialdemokraten fordern kleinere Klassen und mehr Geld für Schulen mit schwacher Leistung. "Die Regierung hat die Steuern um 140 Milliarden Kronen gesenkt, aber nicht das nötige Geld in die Schulen investiert", sagt Parteichef Stefan Löfven.
Für größere Reformen hat Schweden die OECD um Hilfe gebeten. "Wir brauchen jemanden mit einem frischen Blick auf die Sache", sagt Tina Acketoft, die für die mitregierende Liberale Volkspartei im Bildungsausschuss sitzt. Es sei das erste Mal, dass jemand das gesamte System betrachte und alle Reformen seit den Neunzigerjahren evaluiere. Einen ersten Bericht hat die Expertengruppe bereits vorgelegt.
Den Schülern fehlt es demnach an Ehrgeiz, sie kommen häufig zu spät und erhalten zu wenig Anleitung. Außerdem sei der Lehrerberuf nicht attraktiv genug, das Gehalt niedriger als in vergleichbaren Ländern. Laut der Gewerkschaft Lärarnas Riksförbund liegt er bei 28 000 Kronen im Monat, das sind etwa 3200 Euro. Für dieses Gehalt studiert niemand jahrelang Sprachen, Mathe oder Naturwissenschaften. Es drohe akuter Lehrermangel, warnt die Gewerkschaft.
In den Siebzigerjahren, als Winberg von der Åsö-Schule Lehrerin wurde, war der Beruf attraktiv, das Gehalt auf Politikerniveau. Damals garantierte der Staat die Qualität des Unterrichts - und zahlte dafür. Alle Schüler sollten die gleichen Chancen haben, gingen gemeinsam auf die neunjährige Grundschule in ihrem Wohnort. Die Starken zogen die Schwachen mit.
Selbst im Stockholmer Vorort Rinkeby war das so, in dem in den vergangenen Jahren immer wieder Autos brannten und frustrierte Jugendliche randalierten. Dort unterrichtete Winberg vor 30 Jahren. Der Ausländeranteil sei früher schon hoch gewesen, die Leistungen nicht schlechter als anderswo. "Damals wollte ich gerne in dieser Gegend arbeiten, heute nicht mehr", sagt sie.
Den ersten großen Fehler machte Schweden laut Bildungshistoriker Hans Albin Larsson in den Achtzigerjahren. "Wir dachten, wir sind Weltmeister darin, ein Land zu gestalten, und egal was wir tun, das Ergebnis würde gut." Dann musste der Staat sparen, und die Schulen sollten billiger werden, aber nicht an Qualität verlieren. Diese schwere Aufgabe schob die Regierung 1989 an die Kommunen ab. Von nun an mussten sie die Schulen finanzieren und den Lehrplan vorgeben. "Das war eine total verrückte Idee", sagt Larsson. Die Rathäuser hatten weder Mittel noch Erfahrung. Die Lehrer gingen vergeblich gegen die Reform auf die Straße. Sie wurden Kommunalangestellte, ihr Gehalt sank, ihre Freiheiten auch.
Das Prinzip der Gleichheit war dahin
Als der Unterricht schlechter wurde, reagierte die liberal-konservative Regierung mit Fehler Nummer zwei: Die Kinder durften von nun an ihre Schule frei wählen. Das Steuergeld folgte ihnen, auch an private Schulen, die fast gleichzeitig Anfang der Neunzigerjahre erlaubt wurden. Mehr Wettbewerb sollte den Unterricht verbessern. Doch das Prinzip der Gleichheit war dahin. Schüler, deren Eltern sich um die Bildung kümmerten, flüchteten aus Klassen mit sozial schwächeren Schülern. Ein Ergebnis der Reform ist, dass mancherorts der Ausländeranteil heute bei nahezu 100 Prozent liegt. Integration ist so unmöglich geworden.
Auf der anderen Seite begannen Schulen verdeckt damit zu werben, dass sie leicht gute Noten vergeben und ihr Unterricht Spaß macht. Leistungsdruck lockt keine Schüler an. Larsson: "Wir alle spürten, etwas ist faul im Schulsystem."
Umstritten ist, welche Schuld die privaten Schulen an der Krise tragen. Kritiker sagen, man könne nicht guten Unterricht geben und gleichzeitig Profit machen - zumal die freien Anbieter pro Schüler denselben Betrag von der Kommune erhalten wie die öffentlichen. Sie fühlten sich bestätigt, als vergangenes Jahr einer der größten Träger, das dänische Unternehmen JB Education, Insolvenz anmeldete. "Das Problem von JB war, dass sie im letzten Jahr zu wenig Schüler hatten", sagt Claes Nyberg vom Verband der freien Schulen. Er schiebt das auf die Demografie. Den Vorwurf, private Träger würden nur Geld aus den Schulen ziehen, weist er zurück. Ihre Umsatzrendite läge nur bei drei Prozent im Schnitt, das meiste davon würde reinvestiert.
Für die Lehrerinnen Winberg und Elofssons ist die Einstellung der Schüler das Problem. "Die Kinder haben so viel außerhalb der Schule zu tun, mit ihren Computern und iPhones. Alles muss immer nur Spaß machen, auch der Unterricht", sagt Winberg. Und Kollegin Elofsson ergänzt: "Die Kommunen sagen uns: Gebt den Schülern Computer, und sie werden sich das Wissen selbst aneignen."